venerdì 8 novembre 2019

Ist die Zeit von 1914 bis 1945 als ein zweiter "dreißigjährigen Krieg" zu betrachten? - Johanna Graziotto

Diese historische Hausarbeit meiner Tochter, Johanna Graziotto, die sie im Rahmen eines Oberseminares bei  Prof. Dr. Edgar Wolfrum geschrieben hat, finde ich besonders wichtig auch für ein Publikum von Nicht- Historikern. Wie können wir Geschichte Periodisieren? Ist die Geschichte mehr in ihrer Kontinuität oder mehr in Einzelnen Ereignissen zu betrachten? Ich habe sehr viel von dieser Arbeit gelernt. RG 

1. Einleitung

In der Geschichtswissenschaft wird seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs diskutiert, ob die Zeit von 1914 bis 1945 einen zweiten Dreißigjährigen Krieg begründet.Bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war der Dreißigjährige Krieg des 17. Jahrhunderts fest im kollektiven Gedächtnis verankert und wurde als Vergleichsvariabel für andere Kriege verwendet.Daher ist es nicht überraschend, dass bereits Zeitgenossen, wie Charles de Gaulle, von einem zweiten Dreißigjäh- rigen Krieg sprachen.3
Möchte man die Terminologie des „zweiten Dreißigjährigen Kriegs“ geschichtswissenschaftlich verwenden, wird man jedoch mit einigen Schwierigkeiten konfrontiert. Vergleicht man die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts direkt mit der des 20. Jahrhunderts4, oder verwendet man den Begriff als Topos für eine Phase langanhaltender und zahlreicher kriegerischer Handlungen? Zudem kann die Reduzierung jener Jahre auf den Aspekt von Gewalt und Krieg der Heterogenität der Zeit nicht gerecht werden.
Wenngleich die sogenannte Zwischenkriegszeit keineswegs friedvoll war,finden sich in dieser dennoch positive Entwicklungen, demokratische Ansätze und pazifistische Bewegungen. Einer der markantesten Versuche einen internationalen Frieden zu schaffen, ist der Völkerbund. Im Rahmen der Pariser Vorortverträge zeigt er das Bestreben der Alliierten, einen weiteren Welt- krieg zu verhindern. Dennoch verweisen die zahlreichen Revolutionen, Bürgerkriege und militärischen Konflikte der Zwischenkriegszeit auf die Kontinuität von Gewalt in dieser Periode.
Das Ziel dieser Arbeit ist es, zu erörtern, ob die Periodisierung der Zeit von 1914-1945 als ein dreißigjähriger Krieg zulässig ist. Zunächst wird eine kurze Begriffserklärung anhand von Forschungsbeiträgen erfolgen, danach die Festlegung der Begriffsverwendung im Rahmen dieser Arbeit und im Folgenden werden Argumente für und gegen die Verwendung des Begriffes gegenüber (Fortsetzung nach den Anmerkungen 1 bis 5)

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Vgl. BARTH, Boris: Europa nach dem großen Krieg. Die Krise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit 1918-1938, Frankfurt/New York 2016, S. 18-19.
Vgl. MÜNKLER, Herfried: Tränen des Vaterlands, in: FAZ online (2018) (https://www.faz.net/aktuell/politik/die-
gegenwart/herfried-muenkler-30-jaehriger-krieg-15692315.html, zuletzt besucht am 28.09.2019).
Vgl. WEHLER, Hans-Ulrich: Der zweite Dreißigjährige Krieg? Der Erste Weltkrieg als Auftakt und Vorbild für den Zweiten Weltkrieg, in: Der Erste Weltkrieg. Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Stephan Burg- dorff/Klaus Wiegrefe, München 2010, S. 23-35, S. 23.
Vgl. MAYER, Arno J: Der Krieg als Kreuzzug. Das Deutsche Reich, Hitlers Wehrmacht und die „Endlösung“, Reinbek 1989, S. 48.
Der Begriff der Zwischenkriegszeit ist mit Vorsicht zu verwenden, da er einerseits einen gewissen Determinismus impliziert, denn von einer Zwischenkriegszeit kann erst ab 1939 gesprochen werden und er andererseits der Hetero- genität der Periode nicht genügen kann.
Vgl. BARTH 2016, S. 19.
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2. Seite

gestellt. Es ist dabei zu beachten, dass einige Beispiele nicht kommentarlos stehen gelassen werden können und andere, je nach Auslegung, Argumente beider Seiten unterstützten können. Daher kann keine eindeutig zweigeteilte Gegenüberstellung erfolgen.

2. Begriffsklärung anhand von Forschungsbeiträgen

Die Terminologie des „zweiten Dreißigjährigen Krieges“ ist keine Erfindung der historischen Forschung. Bereits im 19. Jahrhundert warnte der Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke vor einem Krieg auf europäischen Boden, der die Ausmaße des Dreißigjährigen Krieges annehmen könne. Dabei verstand er den Begriff als Chiffre eines sich endlos hinziehenden Kampfes, der durch einen Erschöpfungsfrieden beendet werde.Auch Friedrich Engels sagte einen Krieg vor- her, der die Verwüstung des Dreißigjährigen Kriegs komprimiert in eine Zeitspanne von drei bis vier Jahren mit sich bringe.7
Während des Zweiten Weltkriegs griffen zwei Vertreter der militärischen Elite die Terminologie wieder auf. Charles de Gaulle verstand die Zeit ab 1914 als zweiten Dreißigjährigen Krieg, der erst mit dem Sieg über Deutschland enden werde.Auch Churchill schrieb 1944 in einem Brief an Stalin, er betrachte „diesen Krieg gegen die deutsche Aggression als ein Ganzes und als einen dreißigjährigen Krieg von 1914 an“.9
In die geschichtswissenschaftliche Deutung der Epoche der zwei Weltkriege führte Raymond Aron den Begriff ein.10 In seinem Werk Der Krieg als Kreuzzug argumentierte Arno Mayer, dass aufgrund der Parallelen und Übereinstimmungen der Epochen von 1618-48 und 1914-45 sich die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts als Phase eines zweiten Dreißigjährigen Krieges konstituiere.11 Er versteht beide Periode als Zeiten einer allgemeinen Krise, die das politische und gesellschaft- liche System umfasst habe. Diese fungiere zugleich als „Ursache und Folge eines totalen und ungeheuerlichen Krieges“, der das Fundament Europas erschüttere.12 Mayer vergleicht Richelieu und Gustav Adolf mit Winston Churchill und Josef Stalin als unwahrscheinliche Verbündete zur

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Vgl. MÜNKLER 2018.
Vgl. WEHLER 2010, S. 23. Vgl. ebd.

Churchill 1944, S. 254.
Er nutzt an dieser Stelle den Begriff zur Legitimierung der Festsetzung territorialer Grenzen zugunsten der Sowjet- union gegenüber der polnischen Regierung.

10 Vgl. WEHLER 2010, S. 24. 11 Vgl. MAYER 1989, S. 65-67. 12 Ebd., S. 65.

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Sicherung des Kräftegleichgewichts im Kampf um kontinentale Hegemonie. Zudem konstatiert er, dass in beiden Fällen die kriegerischen Auseinandersetzungen für eine große Zahl an Zivilis- ten den Tod bedeutete.13Bereits im Dreißigjährigen Krieg vermischten sich weltliche und religiöse Motive. Mayer sieht den konfessionellen Konflikt zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Kampf zwischen den Ideologien des Faschismus und Bolschewismus. Hitlers Bestreben bezeichnet er dabei als „säkulare Religion“, die sich den modus operandi der katholischen Kirche zu eigen gemacht habe.14
Mayer verweist jedoch auch auf den in seinen Augen bedeutsamsten Unterschied zwischen den beiden Epochen. Der Dreißigjährige Krieg des 17. Jahrhunderts markiere die „Endphase des ideologischen Ringen zwischen Katholizismus und Protestantismus“, während der Dreißigjährige Krieg des 20. Jahrhunderts den Höhepunkt der ideologischen Konflikte darstelle.15
In seinem 2010 erschienen Aufsatz Der zweite Dreißigjährige Krieg stellt Hans-Ulrich Wehler die Frage nach Kontinuitätsbrücken zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Er postuliert die These, dass mit dem Ersten Weltkrieg die Vorgeschichte des Zweiten beginne.16 Er sieht in der Zeit von 1914 bis 1945 eine Phase der Kontinuität von Gewalt und Krieg, die sich beispielsweise in der Weimarer Republik durch einen Bürgerkrieg zwischen dem linken und rechten Lager manifestiere.17 Wehler beendet seine Ausführungen mit der These:
„Unstreitig ist, dass die Erfahrung, der Verlauf und der Ausgang des ersten totalen Krieges den zweiten in hohem Maße vorgeprägt haben. Es ist dieser Zusammenhang, der die innere Einheit des zweiten Dreißigjährigen Krieges konstituiert.“18
An diesem Punkt setzt die Kritik Peter März’ an der Terminologie eines zweiten Dreißigjährigen Krieges an. Auf dem europäischen Kriegsschauplatz seien die „ideologischen und mörderisch- eliminatorischen Aspekte“, die die Einzigartigkeit und Grausamkeit des Zweiten Weltkriegs be- dingten, erst nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zu finden.19

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13 Vgl. ebd.
14 Ebd., S. 50-69.
15 Ebd., S. 65.
16 Vgl. WEHLER 2010, S. 24-26. 17 Vgl. ebd., S. 34.
18 Ebd., S. 35.

19 MÄRZ, Peter: Nach der Urkatastrophe. Deutschland, Europa und der Erste Weltkrieg, Köln/Weimar/Wien 2014, S.131.
Auch Boris Barth konstatiert, dass zwischen den beiden Konflikten keine einfache Kausalität bestehe.
Vgl. BARTH 2016, S. 20.


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3. Begriffsverwendung in dieser Arbeit

Im Rahmen dieser Arbeit soll kein expliziter Vergleich des Dreißigjährigen Kriegs mit der Zeit von 1914-1945 im Sinne Arno Mayers erfolgen.20 Dennoch sollen an dieser Stelle zwei der von ihm skizzierten Parallelen kurz aufgegriffen werden.
Tatsächlich forderte sowohl die erste Hälfte des 17. als auch die erste Hälfte des 20. Jahrhundert eine große Zahl ziviler Opfer. Während des Dreißigjährigen Krieges starben die meisten Zivilis- ten durch plündernde Söldnerheere sowie durch von den Umständen des Kriegs bedingte Seu- chen und Hungersnöte.21

Dies erscheint mir nicht vergleichbar mit dem gezielten millionenfachen Morden aufgrund von politischen, ethnischen und ideologischen Beweggründen seitens zweier Diktatoren. Der an den europäischen Juden verübte Holocaust markiert eine der schlimmsten Tragödien der Geschichte. Ernst Nolte, der die Zeit von 1917-1945 als „europäischen Bürgerkrieg“ bezeichnete,22 konstatiert in seinem gleichnamigen Werk:
„Aber in all dem spiegelte sich, [...], doch nur die Tatsache, daß in Deutschland etwas begonnen hatte, was in der Welt präzedenzlos war: die Bekämpfung und Entrechtung der Juden als Juden in einem modernen Staat, in dem de- ren Emanzipation, d.h. die rechtliche und faktische Gleichstellung mit den übrigen Staatsbürgern, seit geraumer Zeit abgeschlossen war.“23
Folglich erscheint es mir auch fragwürdig, ob man die konfessionellen Konflikte des Dreißigjäh- rigen Kriegs mit den ideologischen Kämpfen im Zweiten Weltkrieg vergleichen kann.
Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht jedoch die Frage, ob man die Bezeichnung „zweiter Dreißig- jähriger Krieg“ als strukturellen Wendepunkt verwenden kann. Dabei wird der Terminus im Sinne Moltkes als Chiffre oder Topos für eine langanhaltende Phase von kontinuierlicher Gewalt und kriegerischen Handlungen verwendet. Bei einer solchen Verwendung ist es notwenig zu fra- gen, welchen historischen Nutzen diese Form der Periodisierung birgt.


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20 Neben den Ausführungen Mayers findet sich bei Peter März ein Vergleich zwischen dem Friedensschluss nach dem Ersten Weltkrieg und dem Westfälischen Frieden von 1648.
Vgl. MÄRZ 2014, S.73-84.

21 Vgl. MAYER 1989, S. 51.
22 NOLTE, Ernst: Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus, Frankfurt/ Main 1987, S. 1.
Diese Variante der Periodisierung greift der Kritik voraus, dass sich die Radikalität des Bolschewismus und Natio- nalsozialismus erst mit dem Ende des I. Weltkrieges manifestierte. Barth betont jedoch, dass die Zeitgenossen den Begriff des Bürgerkriegs nicht verwendet hätten, da die Kategorie des Nationalen alles überwölbt habe.

Vgl. BARTH 2016, S. 19. 23 Ebd., S. 42.

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3.1 Die Problematik der Periodisierung

Das 20. Jahrhundert ist gekennzeichnet von einer großen Anzahl von Wendepunkten und Zäsu- ren. Dies bedingte die Schnelllebigkeit der modernen Gesellschaft, stetige technische Neuerun- gen und eine starke globale Vernetzung. Als Zäsuren gelten dabei meistens einzelne Jahre, in denen verschiedene gesellschaftliche Brüche kulminieren. Exemplarisch sind hier die Jahre 1917, 1918, 1945 und 1989 zu nennen.24 Die historische Zäsur bezeichnet demnach den „sichtbaren Einschnitt in einer geschichtlichen Entwicklung“.25 Nun evoziert dies die Vorstellung, die Ge- schichte bestände aus vielen abgeschlossenen Episoden, die durch Fugenjahre voneinander ge- trennt sind.
Marc Bloch stellt jedoch fest, dass die historische Zeit von Natur aus ein Kontinuum ist, das ständigen Veränderungen unterliege.26 Daher erscheint es sinnvoller einen größeren zeitlichen Abschnitt bezüglich der sich manifestierenden Wandelprozesse zu untersuchen, um die „Konti- nuitäten in der Diskontinuität“ zu erfassen.27 Die Zeit von 1914-1945 ist gefüllt von Kriegen, Bürgerkriegen und Revolutionen. Die Erfahrung der Zeitgenossen von globaler Gewalt, Krieg und Unterdrückung markiert die Kontinuität dieser Periode. Mit dem Begriff des „zweiten Drei- ßigjährigen Krieg“ wird dies betont.
Die Verwendung der Terminologie ist jedoch nur dann legitim, wenn man sich nach der Betrach- tung des Großen und Ganzen auf die Ebene des Mikrokosmos’ begibt, um der Heterogenität der Epoche gerecht zu werden.28Im Folgenden soll anhand von historischen Ereignissen untersucht werden, inwieweit die Zeit von 1914-1945 als Einheit verstanden werden kann, oder ob die Vielfalt dieser Periode dadurch verloren geht.

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24 Vgl. SABROW, Martin: Zeitgeschichte schreiben. Von der Verständigung über die Vergangenheit in der Gegen- wart, Göttingen 2014, S. 161.
25 Ebd.
26 BLOCH, Marc: Apologie der Geschichtswissenschaft oder der Beruf des Historikers, Stuttgart 2002, S. 33. 27 SABROW 2014, S. 167.

28 Eric Hobsbawm stellt fest, dass unter der Prämisse, dass Historiker*innen den selben Kosmos untersuchen, die Differenz zwischen Mikro- und Makrokosmos nur noch wie die Frage nach der Wahl einer geeigneten Technik er- scheine.
Vgl. HOBSBAWM, Eric: Wieviel Geschichte braucht die Zukunft, München/Wien 1998, S. 243.


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4. Kontinuität von Gewalt und Krieg im 20. Jahrhundert

Im Ende des Ersten Weltkriegs sehen einige Historiker*innen nur eine durch Erschöpfung be- dingte Auszeit. Die weiterhin bestehenden Konflikte verlagerten sich nur in die Politik in Form von Rassenideologie, Klassenkämpfen und Bürgerkriegen.29Der Waffenstillstand von 1918 bedeutete nicht das Ende des Krieges. Vielmehr umfasst der mo- derne Friedensbegriff politische Stabilität und ein Gefühl von Sicherheit seitens der Bevölke- rung.30 Dies trifft für die Zeit von 1918-1939 nur sektoral zu.
In der Weimarer Republik waren die Nachbeben des Kriegs ubiquitär erfahrbar. Die hohen Reparationszahlungen, territoriale Verluste, die Präsenz der Besatzungssoldaten und Kriegsbeschädigten sowie die Errichtung von Kriegerdenkmälern führte dazu, dass man sich nicht vom Ersten Weltkrieg lösen konnte.31 Die Entstehung der „Dolchstoßlegende“ führte überdies zu einer Verschärfung der Konflikte zwischen rechtem und linken Lager.32
Seit der Konsolidierungsphase der Weimarer Verfassung stand die Frage im Raum, welche Par- teien miteinander koalieren sollten. Die Rechten standen den Sozialdemokraten gegenüber. Wäh- rend der ersten Reichstagswahl nach dem Weltkrieg 1920 verlor die Weimarer Koalition die Mehrheit der Stimmen und Sitze. Das Bürgertum machte einen Rechtsruck und die Arbeiterschaft wandte sich verstärkt nach links.33 In der gesamten Phasen ihres Bestehens war die Weimarer Republik durch eine innere Instabilität bedroht.34
Nicht nur in Weimar verlief die Zeit zwischen den Weltkriegen nicht harmonisch. Nach der deut- schen Kapitulation kam es weltweit zu einer großen Zahl militärischer Konflikte. Dies war durch die unterschiedlichsten Faktoren begründet: Im Jahr 1919 waren die Grenzen vieler Staaten nicht eindeutig definiert, das staatliche Gewaltmonopol war in vielen Ländern geschwächt und Imperien

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29 Vgl. JUDT, Tony: Geschichte Europas. Von 1945 bis zur Gegenwart, München/Wien 2006, S. 18.
30 Vgl. ECHTERNKAMP, Jörg: Krieg, in: Dimensionen internationaler Geschichte, hrsg. von Jost Dülffer (Studie zur internationalen Geschichte, Bd. 30) München 2012, S.25.
31 Schumann stellt jedoch keine umfassende Brutalisierung der Soldaten aufgrund ihres Kriegseinsatzes fest. Vgl. SCHUMANN, Dirk: Nachkriegsgesellschaft. Erbschaften des Ersten Weltkriegs in der Weimarer Republik,
APuZ 18-30 (2018) (abrufbar über die Bundeszentrale für politische Bildung; http:// 
 www.bpb.de/apuz/268350/weimarer-republik, zuletzt aufgerufen am 9.09.2019, S.1-3.
32 Vgl. ebd., S. 4.
33 Vgl. WINKLER, Heinrich August: Die Zeit der Weltkriege 1914-1945 (Geschichte des Westens, Bd.2) München 2011, S. 285.
34 Vgl. ebd., S. 331.

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gingen unter, wodurch es zu zahlreichen Bürgerkriegen aufgrund eines entstandenen Macht- vakuums kam.35In Italien kam es in diesem Zusammenhang 1922 zur Machteroberung Mussolinis in Folge des Marsch auf Roms. Im Jahr 1935 fiel Italien in Abessinien, dem heutigen Äthiopien, ein. Nach Aggressionsakten Japans gegen China brach 1937 ein offener Krieg aus. Neben dem Deutschen Reich waren auch Italien und Japan revisionistische Mächte, die sich im Zweiten Weltkrieg zu den Achsenmächten zusammenschlossen.36
Nach dem Untergang der Doppelmonarchie Österreich-Ungarns kam es in Osteuropa zu einer Vielzahl von Staatsbildungsprozessen. Der Einfluss des russischen Bürgerkriegs war dabei deut- lich wahrnehmbar.37 Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieg hatte sich der ostmitteleuropäi- sche Raum in die primäre Krisenzone der Zeit verwandelt.38 Die Chronologie der Konflikte in Vorderasien, die mit dem imperialistischen Angriffskrieg Italiens gegen das Osmanische Reich 1911 begannen und erst mit dem Frieden von Lausanne 1923 endeten, zeigt, dass die Zäsuren 1914-1918 keinen globalen Anspruch haben.39
Im Rahmen dieser Arbeit kann keine detaillierte Beschreibung aller Konflikte vorgenommen werden, exemplarisch werden daher die Vorgänge in der entstehenden Sowjetunion dargestellt werden.40

4.1 Die Entstehung der Sowjetunion

Noch vor dem Ende des Ersten Weltkrieges schied das Zarenreich aus dem Kriegsgeschehen aus.41 Dem kriegsmüden Volk wurde jedoch keine Pause gegönnt, das Kriegsende bedeutete kei- neswegs, dass Frieden eintrat. Das Jahr 1917 war stattdessen geprägt von Revolutionen. Die Februarrevolution markierte den Zerfall des Zarenreichs und die Oktoberrevolution den Beginn der bolschewistischen Herrschaft.42

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35 Vgl. BARTH 2016, S. 37-38.
36 Vgl. MÄRZ 2014, S. 123-124.
37 Vgl. BARTH 2016, S. 38.
38 Vgl. SCHUMANN, Dirk/KOLB, Eberhard: Die Weimarer Republik, München 2013, S. 6.
39 Vgl. BARTH 2016, S. 38.
40 Ausführliche Erläuterungen zu den militärischen Konflikten ab 1919 finden sich bei BARTH 2016, Kapitel 3.
41 Vgl. WINKLER 2011, S. 79.
42 Vgl. LUKS, Leonid: Russlands „kurzes“ 20. Jahrhundert (1905-1991), in: 1917. 100 Jahre Oktoberrevolution und ihre Fernwirkung auf Deutschland, hrsg. von Tilman Mayer/Julia Reuschenbach, Baden-Baden 2017, S. 41-43.

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Während die Machtübernahme am 25. Oktober einigermaßen reibungslos verlief, konnte das totalitäre Regime nur in Folge eines dreijährigen Kriegs gefestigt werden.43 Bernd Bonwetsch konstatiert:

„Der Sowjetstaat wurde in Revolution und Bürgerkrieg geboren. Gewalt und der Kampf gegen „Klassenfeinde“ ge- hörten zu seinen Entstehungsbedingungen.“44
Kämpferische Handlungen und Gewalt waren im Erfahrungshorizont der Zeitgenossen dement- sprechend fest verankert. Mit dem den Weltkrieg ablösenden Bürgerkrieg begann für die russi- sche Bevölkerung eine Zeit des Terrors und der Massengewalt. Diese endete erst mit dem Tod Josef Stalins im Jahre 1953.45 Daher lässt sich argumentieren, dass die Zäsur eines Dreißigjähri- gen Krieges, der sein Ende 1945 fand, keinen globalen Anspruch hat, da Gewalt auch nach der Beendigung des Zweiten Weltkrieges auf der Tagesordnung stand.46
Unabhängig davon dienen die Entwicklungen in der Sowjetunion bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges als Beweis für die Omnipräsenz von Gewalt. Die Geheimpolizei Tscheka war ein Organ, das hierfür verantwortlich war. Im Dezember 1917 gegründet, vollzog sie tausendfach Todesurteile und Begann mit der Isolation von Gegnern in Konzentrationslagern. Da sich die Mehrheit der Bevölkerung gegen die Bolschewiki stellte, wurde ihr mit organisiertem Terror begegnet.47
Die Tscheka wurde bei der Definition ihrer Feinde sowie bei deren Verfolgung kaum kontrolliert.48 Nach dem missglückten Attentat auf Lenin verschärfte sich die Situation zuse- hends. Mittels eines Dekrets wurde der „Rote Terror“ angeordnet.49 Dieser Auszug aus den Be- fehlen der Tscheka verweist auf die Willkür des Organs sowie auf die breite Definition des Feindbildes:
„Als Geiseln zu verhaften sind die bedeutenden Vertreter der Bourgeoisie, der Gutsbesitzer, der Fabrikanten, der Händler, der konterrevolutionären Popen und aller der Sowjetmacht feindlich gesinnten Offiziere. Die ganze Gesellschaft ist in Konzentrationslager einzuweisen, wobei eine äußerst zuverlässige Wache einzurichten ist, die diese

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43 Vgl. ebd., S. 49.
44 BOWETSCH, Bernd: Gulag. Willkür und Massenverbrechen in der Sowjetunion 1917-1953. Einführung und Do- kumente, in: Gulag. Texte und Dokumente 1929-1953, hrsg. von Julia Landau/Irina Scherbakowa, Göttingen 2014, S. 30.
45 Vgl. ebd.
46 Ferner könnte man argumentieren, dass auch die Zeit des Kalten Kriegs aufgrund der permanenten Androhung von Gewalt eine Phase des Kriegs konstituiere.
Vgl. ECHTERNKAMP 2012, S. 11.

47 Vgl. LUKS 2017, S. 50.
48 Vgl. BONWETSCH 2014, S. 31. 49 Vgl. ebd.


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Herrschaften unter Konvoi zur Arbeit anhält. Bei jeglichem Versuch, sich zu organisieren, einen Aufstand auszulösen oder die Wache zu überwältigen: sofort erschießen.“50
Dieser Abschnitt zeigt, dass gezielt und erbarmungslos vorgegangen wurde. Die Frage, wer zu den bedeutenden Vertretern zählt, oblag der Interpretation des Einzelnen.
Wenngleich nach dem Ende des Bürgerkriegs 1922 die Tscheka aufgelöst wurde, erhielt ihr Nachfolger GPU bald dieselben Rechte. Sie verhängten Todesurteile und vollstreckten diese. Zudem wurde eine „Sonderberatung des Volkskommissariats“ ins Leben gerufen, die über Ver- bannungen sowie Einweisungen in Zwangsarbeitslager entschied.51

Die Bolschewiki gingen zwar als Sieger aus dem Bürgerkrieg hervor, doch wurden sie schnell mit neuen Komplikationen konfrontiert. Aufgrund der Politik des „Kriegskommunismus“ kam es zu mehreren Bauernaufständen.52 Außerdem führten die diktatorischen, wirtschaftlichen Maßnahmen 1921 zur bis dato schlimmsten Hungerkatastrophe der russischen Geschichte.53
Nach dem Tod Lenins kam es zu Machtkämpfen um seine Nachfolge. Die Partei war mit einer immensen Erosion konfrontiert. Diese Prämisse ermöglichte die Glorifizierung von Personen, von denen man sich Rettung erhoffte. Dies bildete die Grundlage für Stalins Doppelrevolution von 1929.54 Unter Stalin kam es zu einer Verwandlung der Bolschewiki in eine Führerpartei. Er setzte den von der Bevölkerung erfahrenen Terror fort und führte ihn auf eine grauenhafte neue Ebene.55 Die Kontinuität der Gewalterfahrung blieb damit erhalten.

4.2 Die Bloodlands und der sowjetische Gulag

Eine der schlimmsten Erfahrungen von Massengewalt und Terror der Zwischenkriegszeit erfuh- ren die 14 Millionen Opfer des NS- und des Sowjet-Regimes in den osteuropäischen Ländern, die Timothy Snyder die Bloodlands nennt. Sie umfassen Gebiete in Zentralpolen bis Westrussland, einschließlich Weißrusslands, der Ukraine und der baltischen Staaten.56 Snyder betont, dass

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50 Auszug aus dem „Befehl der Tscheka zur Anwendung des „Roten Terrors“, 2. September 1918, in: BONWETSCH 2014, S.38.
51 Ebd., S. 31.
52 LUKS 2017, S. 54.
Luks stellt fest, dass mit dem Aufstand der Kronstädter Matrosen im März 1921 der Kriegskommunismus beendet wurde.

53 Vgl. ebd.
54 Vgl. LUKS 2017, S. 55-56.
55 Vgl. ebd., S. 57.
56 Vgl. SNYDER, Timothy: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2011, S. 9.


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die hier ermordeten Menschen keine Kriegsopfer, sondern Opfer einer „mörderischen Politik“ waren.57Das spricht dafür den Terminus des „zweiten Dreißigjährigen Kriegs“ als Topos für eine Phase von kriegerischen Handlungen, Gewalt und Instabilität zu sehen und keinen direkten Vergleich zu ziehen. Ferner wird klar, dass diese Periodisierung nur im internationalen Kontext tragbar ist. Hitler konnte seine Vision, alle Juden Europas zu vernichten nur verfolgen, indem er die zwei größten europäischen jüdischen Gemeinschaften angriff — die in Polen und die in der Sowjet- union.58
Stalin tötete bereits in Friedenszeiten eine Dreiviertelmillion Menschen unter dem Deckmantel der „Verteidigung und Modernisierung“ der Sowjetunion.59 Bereits vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde ein Viertel der 14 Millionen Opfer ermordet, doch der Krieg veränderte schlagartig die Art und Weise des Mordens. Während in den dreißiger Jahren allein die Sowjet- union politische Massenmorde an Millionen beging, erreichte das NS-Regime diese Zahlen nach 1939. Dennoch töteten die Nationalsozialisten in der Zeit von 1933–1939 bereits 10.000 Men- schen.60
Aufgrund der Zielstellung dieser Arbeit wird auf die unter Hitler im Zweiten Weltkrieg begange- nen Verbrechen nicht näher eingegangen werden. Die Handlungen, die besonders deutlich eine Kontinuität von Gewaltakten in den Jahren vor Beginn des Zweiten Weltkriegs deutlich machen, sind vielmehr die von Stalin im sowjetischen Gulag und während der Zeit der „Großen Säuberung“ befohlenen.
Die Bolschewiki unter Stalin machten es sich zum Ziel, die wohlhabenden Bauern, die Kulaken genannt wurden, zu vernichten. Knapp zwei Millionen Menschen wurden im Zuge dessen in La- ger deportiert. Viele reichere Bauern wurden sofort hingerichtet. Weitere Kulakenfamilien wurden von ihren Höfen vertrieben61
In Folge der Deportationen der Bauern kam es zu Rückgängen in der Getreideproduktion. Der Staat trieb dennoch erbarmungslos hohe Mengen an Getreide für eigene Zwecke ein. Dies führte
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57 Ebd., S. 10.
58 Vgl. ebd., S. 11.
An dieser Stelle ist anzumerken, dass Snyder von den Angriffen Deutschlands auf Polen 1939 und auf die Sowjet- union 1941 spricht. Somit liegen diese Verbrechen im Zweiten Weltkrieg und stützen nur peripher die These des „zweiten Dreißigjährigen Kriegs“. Dennoch forderten bereits die Phasen der Konsolidierung von Nationalsozialis- mus und Stalinismus in der Zwischenkriegszeit eine hohe Zahl an Opfern, wodurch eine Kontinuität von gewaltsa- men Akten deutlich wird.

59 Ebd., S. 12.
60 Vgl. SNYDER 2016, S. 12.
61 Vgl. BONWETSCH 2014, S. 33.


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in den sowjetischen Gebieten zu einer Hungersnot,62 die fünf bis sieben Millionen Menschen das Leben kostete.63 Besonders schlimm traf es die Ukraine. Die Großstädte des Landes boten die einzige Möglichkeit an Nahrung zu gelangen, dennoch war auch dort die Situation gravierend. Beinahe zu Tode ausgehungerte Menschen standen stundenlang vor Geschäften an.64
Die Hungersnöte der frühen dreißiger Jahre waren von Stalin geplant. Doch ließ er seine Bevöl- kerung nicht nur gezielt verhungern. Während des Großen Terrors von 1937/ 38 wurden auf Sta- lins Befehl hin Hunderttausende Bauern und Arbeiter erschossen.65 Bis 1940 wurden über zwei Millionen weitere Menschen, darunter nicht nur ausschließlich Bauern, in den Gulag deportiert. Die höchste Zahl an „Sondersiedlern“ erreichte die Sowjetunion im Januar 1953, acht Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.66
Neben der Liquidierung der Kulaken wurden parteiinterne Rivalen und als „Volksfeinde“ bezich- tigte Mitglieder der parteilichen und staatlichen Elite zu Todes- oder Lagerstrafen verurteilt.67 Die unter den Termini „Großer Terror“ oder „Große Säuberung“ bekannten Verbrechen Stalins sind ein weiterer Beweis für die Schrecken jener Zeit.
Die in diesem Kapitel exemplarisch skizzierten Vorgänge zeigen, dass für Millionen Menschen die Zwischenkriegszeit von Gewalt, Terror und kriegerischen Auseinandersetzungen geprägt war. Die Zusammenfassung der Zeit von 1914-1945 als „zweiten Dreißigjährigen Krieg“ lässt dies deutlich werden. Dies verhindert, dass durch die Terminologie der „Zwischenkriegszeit“ fälschlicherweise das Bild einer globalen Friedensphase evoziert wird.

5. Die Heterogenität der Zeit von 1914 bis 1945

Nutzt man die Terminologie des zweiten Dreißigjährigen Krieges, um strukturelle Zusammen- hänge und Kontinuitäten in der Zeit von 1914-1945 zu untersuchen, besteht die Gefahr, dass man versucht, die Wirklichkeit der Periodisierung anzupassen. Lenkt man das Augenmerk allein auf den Aspekt von Krieg und Gewalt übersieht man die pazifistischen Bemühungen zu Beginn der Zwischenkriegszeit sowie einschneidende Ereignisse der Zeit, wie beispielsweise die Einführung
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62 Für die Hungersnot war zudem Stalins erster Fünfjahresplan verantwortlich. Vgl. SNYDER 2016, S. 46.
63 Vgl. BONWETSCH 2914, S. 33. 64 Vgl. SNYDER 2016, S. 43.
65 Vgl. ebd., S. 12-16.
66 Vgl. BONWETSCH 2014, S. 34. 67 Ebd., S. 34-35.


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des Frauenwahlrechts in vielen europäischen Ländern und den USA sowie den wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung in der Weimarer Republik der 1920er-Jahre.68Winston Churchill schreibt in seinem 1948 veröffentlichten Werk The Gathering Storm:

„After the end of the World War of 1914 there was a deep conviction and almost universal hope that peace would reign in the world.“69

Diese von ihm wahrgenommene ubiquitäre Hoffnung auf Frieden verweist auf die Dichotomie von Deutungs- und Erfahrungszäsur.70 Versteht man die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts als eine lange Phase des Krieges, dürfte das Kriegsende 1918 nicht als abschließende Deutungszäsur ver- standen werden.71 Doch die vom Krieg ermüdeten Zeitgenossen erhofften sich eine anhaltende Zeit des Friedens.
Barth verweist auf den Optimismus der führenden Staatsmänner zu Beginn des Jahres 1919 in Paris, eine Weltordnung etablieren zu können, die Frieden mit sich bringe.72 Ferner fordert er, dass alle fünf Pariser Vorortverträge unter dem Aspekt betrachtet werden müssten, „dass ein einheitliches Friedenswerk für die Welt geschaffen werden sollte“.73 Gegen die in dieser Arbeit erörterte Periodisierung spricht demnach, dass Historiker das Jahr 1918 durchaus als einschneidende Zäsur verstehen, da es die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts beendet.74
Die Weltkriege erreichten beide immense Dimensionen, sodass sie sich notgedrungen durch ihre Singularität auszeichnen.75 Dies wirf die Frage auf, ob die Betrachtung der Zeit von 1914-1945 als zusammenhängende kriegerische Auseinandersetzungen dem gerecht werden können.
Peter März argumentiert für eine Zäsur in der Mitte der zwanziger Jahre, da die in diesem Jahr- zehnt gefundenen Lösungen und Konsolidierungen, nach dem juristischen Ende des Weltkrieges 1918/19 ihn weitestgehend auch politisch sowie mental beendet haben. Darunter zählt er beispielsweise


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68 Vgl. SCHUMANN/KOLB 2013, S. 74 u. 95.
69 CHURCHILL 1948, S. 3.
70 Sabrow erklärt in seinem Werk Zeitgeschichte schreiben, die Bedeutung von historischen Zäsuren, die dem zeitli- chen Gliederungswunsch von Historikern entsprechen. Er verweist jedoch darauf, dass diese Einschnitte nicht zwin- gend von den Zeitgenossen in gleicher Form wahrgenommen werden.
Vgl. SABROW 2014, S. 169-171.

71 Es ist jedoch nicht diskutabel, dass der I. Weltkrieg in Europa eine klare Zäsur markiert. Vgl. BARTH 2016, S. 18.
72 Vgl. BARTH 2016, S. 22.
73 Ebd., S. 23.
74 Vgl. SABROW 2014, S. 161. 75 Vgl. MÄRZ 2014, S.


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13. Seite

 das 1926 getroffene Neutralitätsabkommen der Weimarer Republik mit der Sowjet- union sowie den Eintritt der Weimarer Republik in den Völkerbund im selben Jahr.76Der Völkerbund wurde durch Woodrow Wilson im Rahmen der Pariser Vorortverträge ins Leben gerufen. Wenngleich der Völkerbund die Konnotation des Scheiterns hervorruft, markiert er ein internationales Bestreben, anhaltenden Frieden zu schaffen. Daher wird er im Folgenden als Ar- gument gegen die geschichtswissenschaftliche Verwendung des Begriffes „zweiter Dreißigjähri- ger Krieg“ untersucht.

5.1 Der Völkerbund

Möchte man gegen den Topos einer dreißig Jahre anhaltenden Zeit von Gewalt für die erste Hälf- te des 20. Jahrhunderts argumentieren, reichen Beispielen auf nationaler Ebene nicht aus, da die zahlreichen Konflikte dieser Periode international gesehen an vielen Orten gleichzeitig gescha- hen. Möchte man dieser These beispielsweise mit einer kurzen Phase der kulturellen Blüte in der Weimarer Republik begegnen, scheint dies in Anbetracht von Bürgerkriegen, Massengewalt und kriegerischen Handlungen wenig Gewicht zu haben.
Einem internationalen Phänomen kann man nur mit einem anderen begegnen. Der Völkerbund vereinigte für einige Zeit verschiedene Nationen auf dem Weg zu einem anhaltenden Frieden. Dieser Zusammenschluss symbolisiert die Wahrnehmung der Zeitgenossen, Krieg, wie in der Form des Ersten Weltkrieges, müsse künftig verhindert werden.
Bereits 1795 sah Immanuel Kant die Notwendigkeit eines Zusammenschlusses der Völker. Cott- rell sieht in den Haager Konferenzen einen wichtigen Grundstein für die League of Nations.77 Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges sah Wilson die Zeit gekommen, seine eigene Idee eines Völkerbundes zu verwirklichen.78 In seinem im Januar 1918 präsentierten 14-Punkte-Programm, forderte der amerikanische Präsident beispielsweise offene Diplomatie, Freiheit der Meere und

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76 Vgl. ebd., S. 130-131.
77 Vgl. COTTRELL, Patrick: The League of Nations. Enduring legacies of the first experiment at world organizati- on, London/New York 2018, S. 29.
78 Vgl. BARTH 2016, S. 24.

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14. Seite

freien Handel.79 Wilsons 14 Punkte waren unter anderem eine Antwort auf das Dekret über den Frieden der neuen bolschewistischen Regierung von 1917.80Auch im Januar 1918 begannen die Friedenskonferenzen in Paris, wo über den angestrebten Völkerbund debattiert wurde. Er sollte das organisatorische Medium für die Wahrung des Frie- dens und der Sicherheit auf der Welt sein. Die Mitglieder sollten zur gegenseitigen Unterstützung verpflichtet werden und sie sollten im Falle von Konflikten als Schiedsrichter fungieren.81
Das große Problem des Völkerbundes sowie der Pariser Vorortverträge waren die divergierenden Interessen der teilnehmenden Staaten. Die Mitgliedsstaaten des Völkerbunds behielten uneinge- schränkt ihre Souveränität und versuchten ihre eigenen Ziele durchzusetzen.82 Zudem trat die USA dem Bund zu keiner Zeit bei. Wenngleich dieser Wilson Idee war, stimmte der Senat dage- gen. Unter dem Schlagwort des Isolationismus beschloss man, das Festland seine eigenen Pro- bleme lösen zu lassen.83 Ferner war der Völkerbund nicht in erster Linie ein globaler Lösungsan- satz, da er von den europäischen Mächten dominiert wurde. Allein Japan besaß als nicht-europäi- scher Staat einen permanenten Sitz.84
Die einzige ständigen Mitglieder, Frankreich und Großbritannien, waren außerdem auf sich ge- stellt nicht in der Lage potentielle Aggressoren tatsächlich zu kontrollieren. Zudem führte das Einstimmigkeitsprinzip dazu, dass es kaum zu einheitlichen Entscheidungen kommen konnte. Außerdem wollten die Sieger des Ersten Weltkriegs ihre imperialen Interessen durchsetzen, wo- mit internationale pazifistische Bestrebungen nur eine Utopie bleiben konnten.85
Am 10. September 1926 wurde die Weimarer Republik Mitglied des Völkerbundes. Dies ge- schah insbesondere auch aufgrund der Leistungen Gustav Stresemanns, der sich bemühte die au- ßenpolitische Isolation Deutschlands zu beenden. In Form des Dawes- und Young-Plan war er zudem bemüht, die Reparationszahlungen einzuschränken und territoriale Ansprüche geltend zu machen.86 Jedoch sah vor allem die politische Rechte im Beitritt zum Völkerbund nur ein weiteres

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79 Vgl. COTTRELL 2018, S. 33.
80 Vgl. BERG, Manfred: Woodrow Wilson. Amerika und die Neuordnung der Welt - Eine Biographie (C.H. Beck Paperback, Bd. 6265) München 2017, S. 139-140.
Bereits vor Wilsons öffentlicher Stellungnahmen, sprach Lloyd George von der Schaffung einer internationalen Or- ganisation, die künftige Kriege verhindern sollte.

81 Vgl. WINKLER 2011, S. 173. 82 Vgl. ebd., S. 174.
83 Vgl. BARTH 2016, S. 32-33. 84 Vgl. ebd., S. 35.

85 Vgl. SCHULZ, Matthias. Internationale Institutionen, in: Dimensionen internationaler Geschichte, hrsg. von Jost Dülffer (Studie zur internationalen Geschichte, Bd. 30), München 2012, S. 219.
86 Vgl. SCHUMANN/KOLB 2013, S. 67-73.

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Mittel der Alliierten, Deutschland zu kontrollieren. Eine anfängliche „Wilson- und Völker- bundsbegeisterung“ war mit der Veröffentlichung der Friedensbedingungen vorbei.87Obwohl der Völkerbund an den Schwierigkeiten, mit denen er konfrontiert war, scheiterte, ist nicht zu ignorieren, dass er einen internationalen Versuch der Friedenssicherung darstellt. Diese Tatsache zur Unterstützung der These des „zweiten Dreißigjährigen Kriegs“ zu ignorieren, mutet deterministisch an. Zu Beginn der Friedenskonferenzen stand nicht fest, dass die Welt in einen weiteren schrecklichen Krieg verwickelt werden würde. Die ersten Nachkriegsjahre beinhalten neben Revolutionen auch die Suche nach einem friedvollen Konsens.
Cottrell sieht in der League of Nations ein Experiment für die Entstehung des UN-Sicherheitsrats und die Erhaltung von Frieden.88 Anstatt also den Völkerbund nur als gescheitert anzusehen, lässt sich überdies die Frage stellen, was man aus ihm lernen kann.
Mit Blick auf die hier zu erörternde Fragestellung lässt sich sagen, dass man den Friedensbestre- bungen der ersten Nachkriegsjahre nicht gerecht wird, wenn man 1914-1945 als ein großes Kriegsgeschehen versteht.


6. Fazit

Marc Bloch wirft den Wissenschaften vor, sie würden die Zeit nur in „künstlich homogene Seg- mente“ einteilen und sie als Maßeinheit betrachten.89 Die Schwierigkeit in der Geschichtswis- senschaft sei die Vereinbarung des Verstehens der historischen Zeit als ein Kontinuum, das gleichzeitig ständigen Veränderungen unterliege.90 Hobsbawm verweist auf die historische Prak- tik, die Welt durch ein „Mikroskop“, statt durch ein „Fernrohr“ zu betrachten.91 Er konstatiert, dass die Perspektive aus der man schaut, nur eine Frage der geeigneten Technik sei.92
Jeder Periodisierung dient dem Zweck der Analyse oder Interpretation eines Zeitabschnitts, da der Mensch nicht mehrere tausend Jahre gleichzeitig betrachten kann. Die konstruierten Epochen stehen immer vor der Schwierigkeit, nicht alle Aspekte der Wirklichkeit berücksichtigen zu kön- nen. Daher kommt es stets auf die Frage an, die wir der zu untersuchenden Zeitspanne stellen.

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87 WINTZER, Joachim: Deutschland und der Völkerbund 1918-1926, Paderborn/München 2006, S. 164. 88 Vgl. COTTRELL 2017, S. 14-15.
89 BLOCH 2002, S. 32.
90 Vgl. ebd., S. 33.

91 HOBSBAWM 1998, S. 243. 92 Vgl. ebd.

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16. Seite

Es ist durchaus sinnvoll zunächst durch das Fernrohr auf eine gewisse Epoche zu blicken, um Strukturen auf internationaler sowie globaler Ebene zu erkennen. Diese Wandlungsprozesse verweisen auf das Kontinuum der historischen Zeit und auf Kontinuitäten in der Veränderung. Ge- rade die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ist, wie kaum eine andere Periode, gefüllt von Gewalt, Krieg und Terror. In dieser Arbeit wurde gezeigt, dass der Alltag vieler Menschen davon geprägt war. Daher ist es legitim, die Zeit unter diesen Aspekten zu untersuchen. Insbesondere, da Zeit- genossen wie Churchill oder de Gaulle selbst zu Beginn der vierziger Jahre von einer zusam- menhängenden Zeit von 1914 an sprechen und die Terminologie eines „zweiten Dreißigjährigen Kriegs“ verwendeten.93
Dennoch können selbstverständlich auch sie erst nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs davon sprechen. Bei der geschichtswissenschaftlichen Verwendung des Begriffs muss darauf ge- achtet werden, dass man nicht in die Falle des Determinismus gerät. Zudem hat diese Form der Periodisierung keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sie kann der Heterogenität der Zeit nicht gerecht werden. Daher ist es notwendig, dass man auf der Mikroebene Entwicklungen auf der nationalen Ebene und abseits des Kriegsgeschehens betrachtet.
Die Friedenskonferenzen der ersten Nachkriegsjahre zeigen den Wunsch nach einem anhalten- den Frieden. Wenngleich der Völkerbund scheiterte, ist seine Rolle nicht zu unterschätzen. Den- noch entsprach die Idee von Frieden nicht der in vielen Teilen der Welt erfahrbaren Wirklichkeit. Dies zeigten exemplarisch die geschilderten Entwicklungen in der Sowjetunion. In diesem Sinne kann die Zeit von 1914-1945 als zweiter Dreißigjähriger Krieg verstanden werden.

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93 Vgl. Zweites Kapitel dieser Arbeit.

17. Seite

7. Literatur- und Quellenverzeichnis

Quellenverzeichnis
CHURCHILL, Winston: The Second World War. The gathering Storm, Boston 1948.
TAUTZ, Helmut (Hrsg.): Briefwechsel Stalins mit Churchill, Attlee, Roosevelt und Truman. 1941-1945.

Literaturverzeichnis
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BERG, Manfred: Woodrow Wilson. Amerika und die Neuordnung der Welt - Eine Biographie (C.H. Beck Paperback, Bd. 6265) München 2017.

BLOCH, Marc: Apologie der Geschichtswissenschaft oder der Beruf des Historikers, Stuttgart 2002.
BOWETSCH, Bernd: Gulag. Willkür und Massenverbrechen in der Sowjetunion 1917-1953. Einführung und Dokumente, in: Gulag. Texte und Dokumente 1929-1953, hrsg. von Julia Land- au/Irina Scherbakowa, Göttingen 2014, S. 30-49.

COTTRELL, Patrick: The League of Nations. Enduring legacies of the first experiment at world organization, London/New York 2018.
ECHTERNKAMP, Jörg: Krieg, in: Dimensionen internationaler Geschichte, hrsg. von Jost Dülf- fer (Studie zur internationalen Geschichte, Bd. 30) München 2012.

HOBSBAWM, Eric: Wieviel Geschichte braucht die Zukunft, München/Wien 1998.
JUDT, Tony: Geschichte Europas. Von 1945 bis zur Gegenwart, München/Wien 2006.
LUKS, Leonid: Russlands „kurzes“ 20. Jahrhundert (1905-1991), in: 1917. 100 Jahre Oktoberre- volution und ihre Fernwirkung auf Deutschland, hrsg. von Tilman Mayer/Julia Reuschenbach, Baden-Baden 2017, S. 37-66.
MAYER, Arno J: Der Krieg als Kreuzzug. Das Deutsche Reich, Hitlers Wehrmacht und die „Endlösung“, Reinbek 1989.
MÄRZ, Peter: Nach der Urkatastrophe. Deutschland, Europa und der Erste Weltkrieg, Köln/ Weimar/Wien 2014.
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18 Seite

MÜNKLER, Herfried: Tränen des Vaterlands, in: FAZ online (2018) (https://www.faz.net/aktu-
ell/politik/die-gegenwart/herfried-muenkler-30-jaehriger-krieg-15692315.html, zuletzt besucht am 28.09.2019).
NOLTE, Ernst: Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945. Nationalsozialismus und Bolschewis- mus, Frankfurt/Main 1987.

SABROW, Martin: Zeitgeschichte schreiben. Von der Verständigung über die Vergangenheit in der Gegenwart, Göttingen 2014.
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SCHUMANN, Dirk: Nachkriegsgesellschaft. Erbschaften des Ersten Weltkriegs in der Weimarer Republik, APuZ 18-30 (2018) (abrufbar über die Bundeszentrale für politische Bildung; http:// 

www.bpb.de/apuz/268350/weimarer-republik, zuletzt aufgerufen am 9.09.2019).
SCHUMANN, Dirk/KOLB, Eberhard: Die Weimarer Republik, München 2013.
SNYDER, Timothy: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2011.
WEHLER, Hans-Ulrich: Der zweite Dreißigjährige Krieg? Der Erste Weltkrieg als Auftakt und Vorbild für den Zweiten Weltkrieg, in: Der Erste Weltkrieg. Die Urkatastrophe des 20. Jahrhun- derts, hrsg. von Stephan Burgdorff/Klaus Wiegrefe, München 2010, S. 23-35.

WINKLER, Heinrich August: Die Zeit der Weltkriege 1914-1945 (Geschichte des Westens, Bd. 2) München 2011.
WINTZER, Joachim: Deutschland und der Völkerbund 1918-1926, Paderborn/München 2006.
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