In diesem Post handelt es sich nur um Notizen meiner Lektüre von
Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes, München 1979, 1998, 2020, versehen mit kurzen Kommentaren von mir:
1. "Denn genau wie die Krisis der Theologie ihren Höhepunkt erreichte, als die Theologen selbst - im Unterschied zu den schon immer vorhandenen Haufen der Ungläubigen - über die Behauptung "Gott ist tot" zu sprechen begannen, so wurde auch die Krisis in der Philosophie und Metaphysik offenbar, als die Philosophen selbst das Ende der Philosophie und der Metaphysik zu verkünden begannen" (ibidem , 19) - Ich denke, dass tertium datur. Die Krisis selbst ist weder für die Philosophie noch für die Theologie ein Problem, die Frage ist nur wie das Thema der Verlassenheit (Gott verlässt Gott) und die Frage nach der "selbigen Verwendung von Sein und "Nichts" (Krisis der Metaphysik) thematisiert werden. Hans Urs von Balthasar, Adrienne von Speyr und Ferdinand Ulrich hätten einiges zu sagen, dass Tatsächlich ein "zu den Sachen selbst" und "Gespräch" ist.
2. "Wenn etwas tot ist dann kann es nur die herkömmliche Vorstellung von Gott sein. Und ähnliches gilt für die Philosophie und Metaphysik: nicht, dass die Frage, die so alt sind wie die Menschen selbst, "sinnlos" geworden wären, sondern, dass die Art, wie sie gefasst und beantwortet wurden, nicht mehr einleuchten" (ibidem, 20) - auch hier tertium datur. Ich denke her, dass einiges nicht mehr einleuchtet, weil die Personen nicht mehr glaubwürdig sind. Erneuerungen der Sprache, ohne Erneuerung des Geistes bringt nichts. Adrienne konnte in ihrer Praxis als Ärztin geistige Dinge sagen, die von einem Priester nicht mehr zugehört worden wären. Nicht primär die Sprache war neu, sondern sie war glaubwürdig.
3. Hannah Arendt sagt uns ziemlich bald im Buch, was ihr wichtig ist: "Gedankenlosigkeit ist nicht Dummheit; sie findet sich auch bei hochintelligenten Menschen, und ihre Ursache ist nicht ein schlechtes Herz; wahrscheinlich kann umgekehrt Schlechtigkeit durch Gedankenlosigkeit entstehen" (ibidem, 23) - da sieht sie etwas sehr tiefes und Elite des Denkens und Volk sind auf den selben Boot. Wenn jemand "Klischees, gängige Redensarten, konventionelle, standardisierte Ausdrucks- und Verhaltensweisen" statt "Denken" verwendet, macht keinen besonderen Unterschied ob die Klischees, die der höheren Klassen sind oder der niedrigen. Man kann sich der Bildzeitung oder des Feuilleton der FAZ bedienen, aber wenn man nicht "denkt" macht kein wesentlichen Unterschied.
Was bedeutet denken? Den Unterschied zwischen Vernunft und Verstand bewahren; die Zwecke des Verstandes sind legitim: ich brauche diese Art von Intelligenz, die erlaubt ein Auto zu bauen und ein Auto zu kaufen, aber Vernunft will mehr. Der Preis der Arendt dafür zu bezahlen bereit ist, ist mir zu hoch, aber die Herausforderung ist gigantisch. Welcher Preis?
"Die Vernunft ist nicht auf der Suche nach Wahrheit, sondern nach Sinn. Und Wahrheit und Sinn sind nicht dasselbe" (ibidem, 25) - aber Wahrheit ist nicht nur eine Sache der Erkenntnis und des Verstandes, weil Wahrheit ist mehr als aletheia, sie ist auch emeth (Vertrauen) - Vertrauen in jemandem, der die Wahrheit selbser ist. Ich verlange nicht von einer jüdischen Denkerin, dass sie das versteht oder gar bejaht, aber ich muss die Identität bewahren, die mich ausmacht, auch wenn sie eine offene und keine identitäre Identität ist: sie besteht in einem Bekennen aus Gnade. Nicht eine "Wahrheit des Seins" (Heidegger), sondern eine Wahrheit, die keine Angst hat sich zu exienanieren, also sich zu einem liebenden Nichts zu machen. Die Weisheit und nicht "Wissenschaft" sein will. Und die der Weg von Parmenides bis heute nicht folgt: "Von Parmenides bis zum Ende der Philosophie waren alle Denker einig, dass zur Beschäftigung mit solchen Fragen (was heisst denken?) der Geist von den Sinnen losgelöst werden musste, und zwar von der durch sie gegebenen Welt wie auch von den durch die Sinnesgegenstände hervorgerufenen Empfindungen und Leidenschaften" (ibidem, 22,23) - "Homo Abyssus" von Ferdinand Ulrich dagegen will keine von Sinnen losgelöste Philosophie und gerade weil diese auch Bekenntnis ist: Logos ist sarks geworden.
(19.1.21) Der sehr große Vorteil von Arendt im Unterschied zu Heidegger (aber nicht nur) ist, dass sie keine Hypostasierung des Seins vollzieht. Das Sein ist keine Hypostasis, keine Person, Person ist der, der das Sein schenkt. Das Sein ist nicht die Wahrheit, sondern die Wahrheit ist derjenige, der das Sein gratis schenkt und derjenige, der es offenbart: der universelle und konkrete Logos, der auf seine Göttlichkeit nicht festhält (wie ein Raub, sagt Paulus in einem Hymnus). Der zu höhe Preis für diese Entdeckung, die ich nicht bereit bin zu bezahlen, ist die Trennung zwischen "Sinn" und "Wahrheit" - hier folge ich Robert Spaemann und Ferdinand Ulrich, der übrigens die Versuchungen der Theologie und der Metaphysik genau kennen. Aber in erster Linie folge ich eine dreifaltige Logik, die Geist als Person und als Liebe zwischen Vater und Sohn ist.
Formulierungen wie "Wahrheit des Seins", "göttlicher Gott" (Heidegger) sind lügnerisch, wir haben Schwierigkeit mit dem Verstehen (sowohl im Sinne von Vernunft wie auch im Sinne von Verstand) eines Virus, stellt euch vor, mit dem Verstehen von Sein. Arendt nimmt dieser Lüge nicht teil! Und das macht sie so lebendig und attraktiv! Auch so unbequem!
(19.1.21; nachmittag) "In dieser Welt, in dem wir aus dem Nirgends eintreten und aus der wir wieder ins Nirgends verschwinden, ist Sein und Erscheinen dasselbe" (Arendt, 29). Zuerst hat Arendt die Bedeutung des Wortes "Erscheinen" erklärt: alles was wir hören, sehen, fühlen, schmecken und riechen erscheint. Wir erscheinen auf einer Bühne: die Welt, in der wir hören, sehen... können. Und noch mehr wir können gehört und gesehen werden. Etc. Welche ist die christliche Hypothese über die Existenz: dass, das "Nirgends" von dem wir stammen, nicht das nihilistische Nichts, sondern das Nichts der Liebe ist, der Gratis Liebe, die wir mit Jesus gelernt haben "Abba" (Vati) zu nennen. Also das Sein bewegt sich von diesem "Nichts der Liebe" (der Vater liebt uns gratis) zu ihm zurück. In Unterscheid zu der Arendt Jesus sagt, dass wir in dieser Welt sind, aber nicht von dieser Welt. Arendt insistiert mehrmals zu diesem Thema: wir sind nicht bloss in dieser Welt, sondern von dieser Welt. Und wir sind in dieser Welt als Zuschauer und als Geschaute mit einem sehr starken "Drang zur Selbstdarstellung". In einer gewissen Hinsicht hat sie recht, wenn sie behauptet, dass Sein und Erscheinen dasselbe sind. Das Sein jenseits dieses Erscheinen ist "nichts", deswegen spricht Ulrich von der "selbigen Verwendung von Sein und "Nichts"".
Die Auseinandersetzung mit Hannah Arendt ist anregend, weil sie zwingt mir die Erscheinungswelt erst zu nehmen und zwar als Subjekt und Objekt: wir schauen nicht nur, sondern wir werden geschaut, wir berühren nicht nur, sondern werden wir berührt...In der Zeitspanne in der wir in der Welt sind leben den wir gleichen, auch wenn nicht denselben Drang zur Selbstdarstellung. Die christliche Hypothese verwandelt uns nicht in Engel; es gilt auch für uns Christen: "jedes Seiende soll von jemandem wahrgenommen werden". Auch die Eremiten, wie Antonius aus Ägypten, sind sogar in der Wüste wahrgenommen worden. Und unsere Existenz ist eine Existenz des Hören, Sehen, Berühren, etc. "Die Welt, in die die Menschen hineingeboren werden, enthält viele Gegensände, natürliche und künstliche, lebende und unbelebte, vergängliche und dauernde, und alle haben sie dies gemeinsam; dass sie erscheinen, dass sie also gesehen, gehört, gefühlt, geschmeckt, gerochen werden sollen von empfindenden Wesen mit den entsprechenden Sinnesorganen" (ibidem, 29). In der ignatianischen Tradition, alle meine LehrerInnen (Adrienne von Speyr, Hans Urs von Balthasar, Luigi Giussani, Ferdinand Ulrich...) waren fest überzeugt, dass diese Ebene der Erscheinungen (Vielfalt) und der Sinnen nicht übersprungen werden darf: gratia perficit naturam, non tollit!
Noch ein Gedanke zum Thema "Drang zur Selbstdarstellung". In der "Fratelli tutti" schreibt Papst Franziskus:
32. Eine globale Tragödie wie die Covid-19-Pandemie hat für eine gewisse Zeit wirklich das Bewusstsein geweckt, eine weltweite Gemeinschaft in einem Boot zu sein, wo das Übel eines Insassen allen zum Schaden gereicht. Wir haben uns daran erinnert, dass keiner sich allein retten kann, dass man nur Hilfe erfährt, wo andere zugegen sind. Daher sagte ich: »Der Sturm legt unsere Verwundbarkeit bloß und deckt jene falschen und unnötigen Gewissheiten auf, auf die wir bei unseren Plänen, Projekten, Gewohnheiten und Prioritäten gebaut haben. […] Mit dem Sturm sind auch die stereotypen Masken gefallen, mit denen wir unser „Ego“ in ständiger Sorge um unser eigenes Image verkleidet haben; und es wurde wieder einmal jene segensreiche gemeinsame Zugehörigkeit offenbar, der wir uns nicht entziehen können, dass wir nämlich alle Brüder und Schwestern sind«.
Das krankhafte und narzisstische Drang zur Darstellung unseres Ego in dem Sinn des Papstes ist nicht gleichzusetzen mit dem "Drang zur Darstellung" von dem Arendt redet; bei der Arendt ist er eine Modalität der Existenz, was Papst Franziskus mit Recht kritisiert ist eine Degeneration davon.
(20.01.21) Auch wenn Ferdinand Ulrich Christ ist und Hannah Arendt es vermutlich nicht ist, beiden habe auf ihre Weise versucht die Zwei-Welten-Theorie zu kritisieren. Die Alternative zwischen wahrem Sein und bloßen Erscheinung ist irreführend. Das wahre Sein ist eine Fixierung des Seins in einer Schwebe, die mit unserer Existenz nichts zu tun hat. "Niemand ist gelungen in einer Welt zu leben, die sich nicht von sich aus offenbart" (Arendt, 36). Der Philosoph oder der Wissenschaftler der sich zu von den Erscheinungen zurückzieht, um die Wahrheit zu suchen, können die Priorität der Erscheinungen nicht negieren: keine wissenschaftliche oder philosophische Negation führt zu der Negation der Erscheinungen, der Dinge, der Tiere und der Personen, die wir mit unserem Sinnen wahrnehmen. Und dieser angebliches wahres Sein hilft uns auch nicht das Verschwinden der Dinge, Tiere und Personen, die erschienen sind, zu verhindern. Wenn jemand für Christus 20 Jahren in einem Gefängnis in Albanien verbracht hat, ohne den Glauben zu verlieren, hat es nicht gemacht wegen des wahren Seins, nicht wegen des wahren Gottes, sondern weil er durch einen "religiösen Sinn" (Luigi Giussani) Christus als nicht weniger gegenwärtig als die Wächter in Gefängnis wahrgenommen hat.
In unserer transparenten und pornographischen Gesellschaft haben auch die Reproduktionen von Erscheinungen mehr kraft als geistige Vorsätze: dies zeigt uns wie kräftig Erscheinungen sind. Die ganze Spiritualität, die kirchliche Macht, die theologische Sätze haben nicht verhindert, dass Theodor McCarrick oder Marcial Maciel sich an Erscheinungen festgeklebt haben und so, was dem ersten betrifft, Priesterweihe und Kardinalswürde verloren hat. Diese ganze sexuelle Skandale in der Kirche sollten uns Christen mindestens das beibringen: Erscheinungen sind mächtig. Weil wir leben in der Welt der Erscheinungen, nicht des wahren Seins.
(22.1.21) Über den Wert der Oberfläche
"Was sehen kann, möchte gesehen werden; was hören kann, gehört werden; was berühren kann, möchte sich berühren lassen. Es ist gerade so, als hätte alles was lebt - neben der Tatsache, dass seine Oberfläche zum Erscheinen da ist, dass sie gesehen werden und anderen erscheinen soll -, einen Drang, zu erscheinen, sich in die Welt der Erscheinungen einzufügen, indem es - nicht sein "inneres Selbst", sondern - sich als Individuum darstellt und zeigt" (Arendt, ibidem 39).
Womöglich reicht es schon Instagram, um den "Drang zur Selbstdarstellung", von dem Arendt spricht, zu belegen. Diesen Drang zum "Schau der Gestalt" lässt sich nicht funktionalisieren: sicher spielt im Leben das Erhaltungstrieb eine Rolle oder die sexuelle Anziehungskraft, aber der Drang zur Selbstdarstellung scheint nicht von diesem Treib oder Kraft gänzlich absorbiert zu werden. Auch das Berührt-werden-wollen lässt sich nicht in dem sexuellen Trieb reduzieren (das in der Pandemiezeit zu bedenken, dürfte sehr wichtig sein). An der Oberfläche spielt sich mehr als was in dem Inneren sich abspielen kann, meint Arendt. In einer gewissen Hinsicht ist richtig, da das Schauen von Gestalten (Goethe, Balthasar), wichtiger ist als jeglicher transzendentaler Versuch (Kant, Rahner) die Subjektivität zu verstehen.
(23.1.21)
"Ohne den sexuellen Drang, der aus unseren Fortpflanzungsorgane kommt, gäbe es keine Liebe; der Drang ist immer derselbe, doch wie groß ist die Vielfalt der tatsächlichen Erscheinungen der Liebe! Natürlich kann man die Liebe als die Sublimation der Sexualität verstehen, wenn man sich nur vor Augen hält, dass es ohne sie nichts vom dem gäbe, was wir als Sexualität verstehen, und dass ohne eine Mitwirkung des Geistes, d.h. ohne bewusste Entscheidung zwischen Zusagendem und nicht Zusagendem, nicht einmal die Wahl eines Sexualpartners möglich wäre" (Arendt, 45). In dem Kapitel "Körper und Seele; Seele und Geist" fehlt total eine "Theologie der Geschlechter" (Adrienne von Speyr) oder eine "Theologie des Leibes" (Johannes Paul II), was selbstverständlich ist, aber auch eine "Philosophie des Leibes und der Geschlechter" ist nicht wirklich zu Ende gedacht, womöglich weil in Arendt fehlt die katholische Idee der Sakramentalität des Leibes und dennoch in dem Zitat, mit dem ich diese kurze Überlegung angefangen habe, ist die Antinomie: sexueller Drang und geistige Entscheidung sehr schön zur Sprache gebracht und im Allgemeinen die Antinomie Seele und Geist ist in einem "offenen Denken" gehalten. Seele kann sich ausschliesslich mit Gebärde des Leibes ausdrücken (die Wut kann man in meinem Gesicht ablesen); der Geist braucht die Sprache und das Denken um sich auszudrücken. Ein Gefühl ist Sache der Seele; das Überlegen über ein Gefühl die Sache des Geistes. Heuchelei ist nicht ein Phänomen der Seele, weil die Seele laut Arendt ziemlich einfach dem Drang der Selbstdarstellung (ohne Doppelspiel) unterliegt, während der Geist in seiner Selbstpräsentation reflektiert ist: man kann sich entscheiden das Gute zu verbreiten oder nur so tun als ob, wie die Heuchler machen. Etc.
(26.1.21)
Der naive Positivismus, denkt Hannah Arendt, "glaubt einen unerschütterlichen Grund der Gewissheit gefunden zu haben, wenn er nur alle geistigen Vorgängen von der Betrachtung ausschliesse und sich an die beobachtbaren Tatsachen halte" (vgl. Vom Leben des Geistes, 48) - es handelt sich um eine Täuschung zu denken, wir hätten einen Zugang zu den Tatsachen, ohne geistige Wahrnehmung. Eine sehr allgemein verbreitete Täuschung, wie die, dass Technik neutral sei. Wir gestalten nicht nur die Technik, sondern die Technik gestaltet uns. Und auch wenn der Vergleicht nicht ganz symmetrisch ist, zwischen Tatsachen und geistige Vorgänge gibt es eine reziproke Beeinflussung.
(27.1.21) Das Denken ist für Hannah Arendt so wichtig, dass sie meint, dass so etwas wie das Mitmachen mit der Naziherrschaft, nicht primär mit apokalyptischer Bosheit, sondern mit Mangel am Denken zu tun hat. In dem Kapitel: "Das denkende ich und das Selbst: Kant" (ibidem 50-55) versucht sie zwischen dem Denken, der nicht "erscheint" (wie Gott ist es ein "Ding an sich", der Erscheinungen verursacht, ohne selbst zu erscheinen, meint Arendt) und dem Selbst, der mitten in den Erscheinungen/Schein ist, zu unterscheiden (und dies in einem sehr interessanten Dialog mit Kant).
Wir sind nicht nur in der Welt, sondern von dieser Welt, meint Arendt (im Unterschied zu Jesus, der christlich gesprochen, in der Welt der Erscheinungen erschien ist, und zwar als Fleisch) und dennoch meint sie auch, dass dort wo unsere Existenz ganz von den Erscheinungen bestimmt ist (vgl. 54), zu den Mangel an Denken kommt. Das Denken kennt keinen Altersunterschied, meint sie und auch keine geschlechtliche Differenz. Bis dato ist jedoch nicht ganz klar (mir nicht ganz klar), wohin sie uns führen will. Aber mindestens das würde ich festhalten wollen: das Denken hilft uns "dogmatischen Anschauungen und willkürlichen Annahmen" zu überwinden. Arendt denkt, dass auch ein Wesen, das durch und durch in der Welt der Erscheinungen lebt "Scheinbilder" von echten Bildern unterscheiden lernen kann, auch wenn er sich in der "paradoxen Situation eines Lebewesens" befindet, das ganz in der Welt der Erscheinungen ist. Arendt nimmt also die kantianische Hypothese ernst, dass dem Denken un dem Geist möglich ist, "von der Welt zurückzuziehen, ohne sie freilich jemals verlassen oder transzendieren zu können" (ibidem, 55).
Auch wenn die christliche Hypothese, dass man auf Erde und in dem Himmel leben kann (Adrienne von Speyr) ausgeschlossen ist, die Arendt's Herausforderung ist durchaus wichtig; zwar denke ich nicht, dass das Böse einer Mitmachenschaft mit dem Nazi oder mit Stalin meinetwegen, nur auf ein Mangel an Denken zu reduzieren ist, aber womöglich ist auch ein bisschen eine ernstzunehmende Hypothese. Auch heute angesichts der Herausforderungen unserer historischen Existenz.
(28.1.21; Thomas von Aquin) Die Wirklichkeit und das denkende Ich; der kartesische Zweifel und der sensus communis (Thomas von Aquin) (Ibidem, 55- 62)
Hannah Arendt überrascht mich sehr und hilft mir Ordnung zu machen in dem Werdegang der Philosophie von Thomas durch Descartes bis zum XX Jahrhundert. Nach der kopernikanische Wende Kants und Schopenhauers bringt sie die Philosophie dort wohin sie zu gehen hat: "Das Wirkliche in einer Welt der Erscheinungen zeichnet sich vor allem durch "etwas Stehendes oder Bleibendes" aus, das solange währt, dass es Objekt der Erkennung und Anerkennung durch ein Subjekt werden kann" (ibidem 55). Die kopernikanische Wende Kants bringt mit sich eine Überakzentuierung des Subjekts, des erkennenden Subjekts und in der Version Schopenhauers eine Überakzentuierung des Mitleidenden Subjekts (das sei gesagt, auch wenn Mitleid uns Solidarität (Horkheimer) durchaus etwas gutes sind). Arendt ist keine Pessimistin (versus Schopenhauer), noch weniger eine Metaphysikerin. Sie hat einen echtes Interesse an das, was die Sinnen wahrnehmen und auch an diesem sechsten Sinne, das mit Thomas sie "sensus communis" nennt und der womöglich sehr ähnlich ist mit dem "religiösen Sinn" von Luigi Gussani.
Sehr beeindruckend finde ich, dass sie eine Kritik des Solipsismus macht: das cogito, ergo sum verkündet nicht nur die Abhängigkeit des "sum" vom "cogito - es ist fraglich, ob dies wirklich zum modernen Atheismus geführt hat; vielleicht hat Massimo Borghesi recht, wenn er sagt, dass das nicht der Fall ist (womöglich hat der Dreissigjähriger Krieg mehr zum Atheismus beigetragen als die Gedanken des frommen Descartes). Aber die Gewissheit des cogito (der wegen des Wissenschaft seine Gewissheit verloren hatte) betrifft nur cogitationes, nicht das Wirkliche, wie Nietzsche gesagt hat; aber die Kritik der Arendt ist noch stärker: die Überakzentuierung des cogito führt zum Solipsismus und dieser vergisst, dass das Sein Mitsein ist: "Die Wirklichkeit dessen, was ich wahrnehme, wird durch seinen welthaften Zusammenhang gewährleistet, zu dem einerseits andere gehören, die wie ich wahrnehmen, und anderseits das Zusammenspiel meiner fünf Sinne" (ibidem 59). Also wir denken in einer gemeinsamen Welt und wir wahrnehmen durch die Sinne und deren Rekapitulation in dem gemeinsamen Sinn.
Arendt kennt die Überwesenhaftigkeit des Seins (Ferdinand Ulrich) nicht, sprich das Geheimnis des Seins als Gabe der Liebe Umsonst, aber sie hat genug Mitseins-Verständnis, dass sie die solipsistische Engführung des cogito, ergo sum überwinden kann; sie kennt also das "Über" einer katholischen Philosophie nicht, aber sie hat ein universelles Sinn, die sie erlaubt die Sackgassen einer solipsistischen Philosophie zu sprengen und zwar durch einen gemeinsamen Sinn, der sehr verwandt ist mit dem religiösen Sinn: ich höre und sehe und taste nicht nur, aber ich kann unterscheiden, was ein gutes Hören, Sehen und Tasten ist... Also es gibt in ihr einen Zugang zu das, was Stehendes oder Bleibendes (das lateinische manere, und mit Johannes: manere in dilectione mea) ist, und das mitten in einer Welt der Erscheinungen und des Scheins. Sie verstehet auch, dass das Denken immer riskiert die Existenz aufzulösen und das passiert - Gott sei Danke - dennoch nicht, weil auch der größte Philosoph auch nur ein Mensch ist, der nicht nur denkt. Sie kennt jedoch die notwendige epoche, die im Denken impliziert ist; wenn man denkt, man denkt und man registriert nicht nur Erscheinungen. Das Denken ist also eine schwache Tätigkeit, die das "manere in der Liebe" (manete in dilectione mea) nicht gewährleistet und die dennoch wir brauchen, wenn wir nicht von den Erscheinungen verschluckt werden wollen. Das "bios xenikos" des Philosophen (das Leben des Fremden) rettet die Welt nicht und dennoch kann nicht fallen gelassen werden für (propter) eine reine Abhängigkeit von "Fakten", die mitunter auch nur Erscheinungen sind.
(29.1.21) Wissenschaft und gemeiner Verstand (über den Unterschied zwischen Verstand und Vernunft (Denken) - Wahrheit und Sinn
Arendt kritisiert die Reduktion von "Wahrheit" auf "Richtigkeit" und stellt die Frage nach dem "Sinn". Sehr gut finde ich ihre Idee, dass es zwischen "Wissenschaft" und "alltäglicher Verstand" mehr Analogie gib, als zwischen "Denken" und "Wissenschaft". Hören wir genau den Wortlaut:
"Selbst die Unaufhaltsamkeit des Fortschritts der modernen Wissenschaft, die sich ständig korrigiert, indem sie Antworten fallen lässt und Fragen neu formuliert, widerspricht nicht dem Grundziel der Wissenschaft - die Welt, wie sie den Sinnen gegeben ist, zu sehen und zu erkennen -, und ihr Wahrheitsbegriff leitet sich von der Alltagserfahrung her, dass es unwiderlegbaren Daten gibt, die Irrtum und Täuschung beseitigen. Doch die Fragen, die das Denken aufwirft und die der ureigensten Beschaffenheit der Vernunft entsprechen - nämlich Fragen des Sinnes (die Fragen, die Robert Spaemann "letzte Frage" nannte; RG) können der gemeine Verstand und seine Verfeinerung, die Wissenschaft, grundsätzlich nicht beantworten. Die Frage nach dem Sinne ist für den gemeinen Verstand "sinnlos", denn der sechste Sinn hat ja der Funktion, uns in die Welt der Erscheinungen einzufügen und in der von unseren fünf Sinnen gelieferten Welt heimisch werden zu lasse; und damit ist die Sache für ihn abgeschlossen" (ibidem, 67-68).
Also ich muss mich korrigieren (vgl. was ich gestern geschrieben habe), der sechste Sinn ist nicht vergleichbar mit dem "religiösen Sinn", der uns nicht mit der Welt heimisch machen lassen will, sondern mit dem Geheimnis, das in der Welt anwesend ist. Wenn das "Denken" für die letzte Fragen (Sinnfragen) zuständig ist, dann wäre es mit dem "Geheimnis" beschäftig; aber ich forciere den Arendt's Text, die eigentlich ganz im Sinne Aristoteles, Metaphysik nicht als "Geheimnis", sondern als die Frage nach dem Sinn von Seienden sieht. Παντες ανθρωποι τον εἱδεναι ορεγονται φυσει - und der erste Schritt des Denkens ist in dieser Aussage enthalten: "alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen" oder wörtlicher: "Alle Menschen möchten sehen und gesehen haben".
(30.1.21) Gestern habe ich auf den Unterschied zwischen Vernunft/Denken und Verstand/Wissenschaft (Kant) verwiesen. Wir wollen auch den Unterschied zwischen Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten (Leibniz) durchdenken - die erste haben mit der Vernunft und dem Denken zu tun und sind notwendig und deren Gegensatz ist unmöglich, während die zweite sind nicht notwendig und das Gegenteil wäre durchaus möglich gewesen. Der Coronavirus ist eine Tatsachenwahrheit: wir haben ihn, aber es hätte auch in der Form, die er angenommen hat, auch nicht geben müssen. Arendt sagt mit Recht: "Nur Tatsachenwahrheiten sind wissenschaftlich verifizierbar" (ibidem 70) und sind Gegenstand von wissenschaftliches Interesse. Dass es in Europa auch die Position von Ärzten gibt, dass die Gefährlichkeit des Coronavirus in Frage stellen, hat nicht mit Verstand, sondern mit Chaos zu tun: man benutz die hinterfragende Vernunft für einen Gegenstand des Verstandes. Zwar kann man Verstand und Vernunft nicht total trennen, aber auch nicht vermischen, sonst kommen zu Tage Aussagen, die gänzlich sinnlos sind und man diskreditiert das Denken oder die Philosophie Tatsachen leugnen zu wollen. Das Denken lässt sich nicht von Tatsachen oder vermeintliche Tatasche verschlucken, es ist die Aufgabe der Wissenschaft vermeintliche Tatsachen zu widerlegen. Diese Widerlegung hat nur eine vorläufige Bewandtnis, weil die Wissenschaft sich eben mit dem vorläufigen Richtigen beschäftigt. Wissenschaft ist "datenhaft" - eine Theorie, die bis zu einem bestimmten Punkt als richtig empfunden ist, kann nach einem bestimmten Datum sich als falsch oder nur partiellen richtig erweisen.
Was tut das Denken? Das Denken denkt letzten oder sinnvollen Fragen, die nicht wissenschaftlich verifizierbar sind. Ist der Mensch frei? Ist seine Seele unsterblich? Ist es sinnvoll an Gott zu glauben? Etc. Ich habe die Beispiele Kants übernommen. Mit Recht sagt Arendt, dass wenn diese letzten Fragen nicht mehr gestellt werden, werden wir keine Kunst mehr haben, aber letztendlich wird der Mensch auch das Feuer erlöschen mit dem er wissenschaftlich tätig ist: die Neugier hat mit Tatsachen zu tun, aber sie selbst keine Tatsache, sondern eine sinnvolle Bewandtnis. Soweit für heute!
(2.2.21) Es ist für den Philosoph, aber auch im allgemeinen für den denkenden Menschen, unerlässlich nachzudenken, was eigentlich "geistige Tätigkeit in einer Welt der Erscheinungen" sind. Und zuerst sagt Hannah Arendt, dass sie etwas unsichtbares sind und einen Rückzug von dem, was man sieht, hört, etc. beinhalten. Die geistige Tätigkeit des Denkens, Wollens und Urteilen werden von ihr durchdacht. Die drei Bereiche sind nicht völlig unterschiedlich, aber man kann sie auch nicht "selbig füreinander verwenden" - ich kann eine vorzeitige und ökonomisch gute Rente wollen, aber ich kann sie nicht mit "Denken" hervorbringen. Und ich kann im Allgemeinen nicht mit Denken mein Wollen vollständig steuern. Die Formel von Duns Scotus bringt es auf den Punkt: "Nichts anders als der Wille ist die Gesamtursache des Wollens" (zitiert in Arendt, ibidem 75). Ähnliches gilt es auch für das Denken, so das Kant von einem "Bedürfnis des Denkens" spricht Auch die Urteilskraft: das ist gut, das böse, etc. hängt nicht 100% von unserem Wollen oder Denken. Was ist diesen Unsichtbaren Tätigkeiten gemeinsam? Dass sie eine gewisse "Stille der Leidenschaften" voraussetzen. Wenn ich total Hunger habe, kann ich nicht gut denken, etc.
Arendt ist viel differenziert als ich und ich schlage dem Leser dieses Post sich einmal das Buch von ihr zu kaufen und zu lesen (vgl. oben die bibliographische Angaben).
Was unterscheidet das Bedürfnis, etwas zu essen von dem Bedürfnis sich spekulativ zu betätigen? Was unterscheidet ein "Gefühl" vom "Denken"? Das Bedürfnis zu essen, kann man spüren. Wenn ich wütend werde, kann ma sehen - etwa in meinem Gesichtsausdruck. Das Denken kann ich nur in einer Geistesabwesenheit merken (die aber auch eine andere Ursache haben könnte), aber grundsätzlich ist dabei nichts zu spüren, sehen, hören...Diese geistige Tätigkeit setzt eine Entsinnlichungsarbeit voraus: wenn ich denke erinnere mich auch zwar an etwas, zum Beispiel habe ich ein Abbild im Kopf, von dem Gegenstand meines Nachdenkens, aber schon das aktive Sich-erinnern ist etwas anders (Augustinus) und das Denken ist noch einen Schritt ins Abstrakte hinein.
Philosophen und denkende Menschen denken freilich nich nur: sie essen, sie haben ein sexuelles Leben, etc., aber in ihnen ist das Bedürfnis zu denken mindestens so stark wie der sexuelle Wunsch (es kann punktuell ein Widerspruch zwischen den Beiden entstehen, aber ich würde behaupten, dass der erste, wenn auch nicht punktuell, aber im Allgemeinen stärker als der zweite ist) - geistige Bewegungen, die zum Beispiel ein totales Gehorsam von seinen Mitgliedern verlangen, sollten darüber nachdenken, besser die Leiter dieser Bewegungen, sollten es tun.
Heraklit bringt auf den Punkt worum es hier geht: "Das Weise (der Geist) ist etwas von allem Abgesondertes" - dieses Bedürfnis nach Abgesondert-Sein ist im denkenden Menschen total stark, auch wenn er bereit ist zuzugeben, dass die Existenz der Anderen zu seinem Dasein, gestern, heute und morgen, wesentlich ist. Er lebt in und von dem, was in der Welt erscheint, aber er kann das Bedürfnis zum Denken nicht fallen lassen. Warum? Darum! In diesem sich absondern liegt die Gefahr der Abstraktion (die auch moralische Abstraktion hervorbringen kann), aber auch die Chance eines Unterscheiden der Geister, das nicht gewöhnlich ist: was für ein Geist ist im Spiel in unsern leiblichen und geistigen Tätigkeit? Was für einen Geist ist im Spiel in das, was wir sehen, direkt oder fiktiv (Instagram, Netflix...)? M.E. die Gemeinschaft mit Anderen ersetzt nicht dieses Alleinsein im Denken, auch wenn sie eine Hilfe gegen die Abstraktion sein kann!
(14.2.21) Über den Bürgerkrieg zwischen Denken und gemeinem Verstand (Hannah Arendt und Ferdinand Ulrich)
Wenn wir die Aussage von Hannah Arendt über die Banalität des Bösen ernst nehmen, dann werden wir sehen wie viel Wert sie dem "Denken" beimisst und dennoch ihre "Kritik" an dem "Denken" ist erfrischend. Ja, es hat einen Kampf zwischen den Philosophen und dem gemeinem Verstand gegeben, aber nicht in dem Sinne, dass die erste die Opfer von Gewalt gewesen wären - vielleicht ist das nicht einmal der Fall bezüglich von Sokrates. Aber wie es auch sei, das Bedürfnis sich zu differenzieren kommt von den Philosophen her, nicht von dem gemeinem Volk, das falls es sich das Problem der Philosophie stellt, stellt es sich als Unverständnis oder als lächerliche Tätigkeit dar und nicht als Kampf. Der Philosoph meint, dass es notwendig sei eine "Seinsvergessenheit" (Heidegger) zu beklagen, also dass die Leute das Wesentliche vor den Augen verloren hätten, der nicht Philosoph höchstens wird zu lachen anfangen, wenn man den "Himmel" forscht und in einem Brunnen fällt. Und wir Philosophen sollten dieses Gelächter aushalten und dankbar sein dafür, damit wir nicht die Beziehung zur Wirklichkeit verlieren.
Nicht die Philosophen, sondern die Menschen sind manchmal Objekt von bösen Geschwätz, der wirklich uns "töten" kann und so etwas schlimmes wie Auschwitz oder der Archipel Gulag war nicht gegen Philosophen. Ich sehe in dieser kritischen "Erdung" des Philosophen einen gemeinsamen Anliegen von Hannah Arendt und Ferdinand Ulrich, der über das absolute Wissen von Hegel, das sich als "Wissenschaft" verstehen will, als "logifizierten" Liebe spricht - also von einer Liebe, die nicht dort wo die Menschen sind ausstrahlt, also in der Welt der Erscheinungen, sondern in der Fiktion des Philosophen, in der fiktiven Wissenschaft der Philosophen. Hannah Arendt meint, dass die Geburt ein Hineinkommen in der Welt der Erscheinungen ist und der Tod ein Verschwinden von ihm, Ulrich denkt das Leben als Einheit von Leben und Tod, aber ohne zu denken, dass nur er als Philosoph das Wesentliche kennt. Der Philosoph ist einer der pilgert untern anderen Menschen, die auch pilgern. Und dieses Pilgern ist eine Form des Handeln, aber Handeln "kann man nur 'konzertiert', in der Gemeinschaft und mit der Zustimmung der Mitmenschen"(Hannah Arendt, ibidem 96). In dem "Höhlengleichnis" wird nur die Arroganz der Philosophen ausgedrückt und nicht ein "wesentlichen Dienst", den sie den Mitmenschen leisten würden.
Etty Hillesum meint, dass die innere Welt nicht weniger "präsent" ist als die äußere, aber auch diese innere Welt ist nicht Eigentum der Philosophen, sondern "Mit-gut" von allen Menschen, die nicht nur "erscheinen" wollen und die dennoch gerade im Erscheinen unter anderen eine Form des befreienden Gehorsams sehen. Sicherlich besteht einer gewissen Größen in den Menschen, die nicht aufhören können zu denken, auch wenn sie freilich nicht nur das machen können oder wollen (sie müssen zum Beispiel auch schlafen) und ich fand es immer sehr beeindruckend, dass Kant bis er dann Alzheimer bekommen hat, sich immer wieder in Frage hat stellen lassen, auch von Studenten: "Ich bin nicht der Meinung... wenn man einmal sich wovon überzeugt hat, daran nicht mehr zu zweifeln" braucht. Diese Penelope-Arbeit des Philosophen ist großartig, aber schon ein echter Zuhörer, auch wenn er das Ganze nicht systematisch denken kann, tut es so, dass er ein Offener bleibt. Ich weiss noch nicht wohin die Hannah Arendt uns führen will, aber ich fand ihre Kritik an das Pseudo-Wesentliche der philosophischen Tätigkeit sehr hilfreich - in einer gewissen Hinsicht eine echte Einführung zur Überwesenhaftigkeit der Gabe des Sein als Liebe (Ulrich) - weil das Sein ist kein Wesen untern andern, aber auch nicht etwas, dass man vergessen könnte, weil Liebe, die konkrete Liebe das Einzige ist, was wir wirklich brauchen, egal ob wir Philosophen oder nicht Philosophen sind.
(17.2.21) Über den Unterschied zwischen Denken und Urteilen, über die Rolle des Zuschauers und über die chinesische Sprache
Im Durchdenken des Werkes von Hannah Arendt "Vom Leben des Geistes" möchte ich mich auf 2 Probleme fokussieren: ein theoretisches Problem und ein für mich praktisches Problem, da ich in meiner Klasse eine Schülerin aus China habe.
Das theoretische Problem ist die Frage nach dem Unterschied zwischen Urteilen als Zuschauer und dem Denken. Beide sind geistige Tätigkeiten, aber während das Denken ein sehr radikales sich Zurückziehen aus der Welt beinhaltet, so dass der Philosoph der Los der Einsamkeit (im Sinne Arendt's, den wir am 14.2.21 durchdacht haben), aber auch die Arroganz, die in dieser impliziert ist, für sich beansprucht und an ihm klebt, das Urteilen des Zuschauers findet untern anderen Zuschauern, auch wenn die Ähnlichkeit mit dem Denken darin besteht, dass er nicht an dem Ereignis teilnimmt den er betrachte: als Zuschauer kann ich die französische Revolution betrachten, ohne an den Ereignisse in Paris teilgenommen zu haben (wie Kant in Königsberg tat). Dieser Zuschauer-Status haben wir in der heutigen Transparenz-Gesellschaft als Massenphänomen vor Augen. Wobei m.E. wir nicht nur, wie die Arendt meint, sinnvolle Sätze brauchen, sondern auch wahren - um ein Beispiel von Glenn Greenwald zu übernehmen: dass ein Polizist mit einem Feuerlöscher von den Protestierenden in Washington D.C. umgebracht worden ist, ist ein sinnvoller Satz, aber keinen wahren, wenn Greenwald recht hat. Und die Referenz unserer Sätzen zu einem wahren Inhalt, und nicht nur sinnvollen Satz per se, gehört m.E. entscheidend zur Dimension des Zuschauers. Der Unterschied zwischen "Sinn" und "Bedeutung" in Frege hat gerade mit diesem Unterschied zu tun. Nur subjektiven sinnvollen Sätzen erlauben mir meine Rolle als Zuschauer ernst zu nehmen.
Nun zu chinesischen Sprache: im Allgemeinen müssen wir sagen, dass das Urteilen des Zuschauers findet in der Sprache statt. Allein die Sprachen sind nicht alle gleich: unsere Sprache ist von abstrakten Worten gebildet, während die chinesische Worten sind "Bilder" - für das Wort Freundschaft wird das Bild zweier verschränkten Händen verwendet. Während man in dem deutschen Wort "Freundschaft" oder in dem italienischen "amicizia" , nichts "sieht", in dem chinesischen Wort für Freundschaft sieht man die symbolisierte Freundschaft. Wir haben zwar mit der chinesischen Kultur das "Sehen" als wichtigste Sinne gemeinsam, aber die Chinesen können auch in ihren Worten sehen, was sie ansprechen. "Was uns von den Chinesen unterscheidet, ist nicht "nous" (Denken), sondern "logos" (Sprache)" (Arendt, 106) - in uns gibt es auf Grund der Verfassung unserer Worten eine Überbetonung des "Rechenschaft ablegen" (erörtern...), des "Rechtfertigen". Das zu wissen hat für mich als Lehrer auch praktischen Konsequenzen: eine "Erörterung" oder "Reflexion" einer Chinesin mit unseren Kriterien beurteilen zu wollen, dürfte ein Ding der Unmöglichkeit sein. Und dennoch ist ein Dialog mit dem "Anderen" absolut not-wendig. Aber wie Pierre Claverie sagt, wir müssen aufpassen mit dem "Schubladieren" in unseren "Etiketten"; jeder Dialog ist ein solcher, wenn wir die Einzigartigkeit des Anderen ernst nehmen; freilich wir können es nur auf Grund unseres "Selbstsein" tun, aber uns muss immer sehr konkret präsent sein: " Ich denke, dass das Vorhandensein der Verschiedenheit, des Andersseins, deren Anerkennung und Annahme für alle Menschen und Menschengruppe die größte Schwierigkeit darstellen" (Pierre Claverie, An der Nahtstellen zweier Welten, Freiburg, 202077-78) - wir neigen dazu uns zu verteidigen oder unsere Identität zu verteidigen, aber diese Not (die Andersartigkeit) kann nur überwunden werden, wenn wir fast a priori zu uns sagen: die Begegnung mit dem Anderen als Anderen muss klappen. Im Spiel ist das große Projekt, dass Papst Franziskus "Fratelli tutti" nennt.
(19.02.21) Von dem wichtigen Kapitel über die Metapher als "Übertragung" (metapherein) will ich am Beispiel der Ontologie des "Seins als Gabe" (Ferdinand Ulrich) nur diesen Punkt festhalten: die Übertragung, von der hier die Rede ist, bewegt sich von einer Dimension, die man nicht sieht, in der Dimension der "Erscheinungen". "Sein" sieht man nicht, die Gabe auch nicht, aber man sieht konkrete Geschenke, etwa eine "Rose". Wenn ich also sage, dass das Sein geschenkt wird, kann sich jeder und kann ich unter dem Wort "Geschenk" durch meine/unsere Vorstellungskraft etwas konkretes vorstellen. Durch die Metapher wird also die Ontologie, schon an der konkreten Ebene der "Sprache", "gezwungen" wieder in der Welt der Erscheinungen zurückzukehren - das hilft der Ontologie, um nicht nur ein abstraktes und fiktives Gedankengebäude zu sein. Hannah Arendt formuliert es ganz präzise: "Wenn die Sprache des Denkens (hier des ontologischen Denkens; RG) wesentlich metaphorisch ist, so folgt, dass die Erscheinungswelt in das Denken, auch abgesehen von den Bedürfnissen unseres Körpers und den Ansprüchen unseren Mitmenschen, hineinkommt, welche uns ohnehin wieder in sie zurückholen. Wie nahe wir auch beim Denken dem Entfernten sind, und wie weit weg vom Nächstliegenden, das denkende ich verlässt offenbar die Erscheinungswelt nie völlig" (ibidem 114) - wie weit auch vom Nächstliegenden eine ontologische Überlegung über das Sein sein mag, durch die Metapher der "Gabe" wird sie zurückgeholt in der Welt der Erscheinungen. Also die Sprache selbst ist ein wichtiger Beitrag um die Arroganz und Illusion der "Zwei-Welten-Theorie" zu überwinden. Mindestens was die Illusion anbelangt können wir mit Kant und Arendt sagen, dass es sich um "eine metaphysische Täuschung", nicht um eine "willkürliche oder zufällige" und dennoch nicht nur die Arroganz, sondern auch sie muss überwunden werden, und zwar auf den kleinen Weg der alltäglichen Erfahrung, in dem zu prüfen ist, ob Sein tatsächlich Gabe ist. Ferner sei hier nur erwähnt: wenn das nicht der Fall ist (dass das Sein Liebe ist), dann hilft auch nicht auf eine allgemeine Gesetzlichkeit zu denken oder zu verweisen, die angeblich die Menschen Orientierung anbieten würde. Wieso nicht? Weil glaubhaft ist nur die Liebe (Hans Urs von Balthasar).
(25.2.21) Über den Kapitel "Di Metapher und das Unsagbare" (ibidem, 115-129) gäbe es viel zu sagen, sowohl akademisch (in erster Linie über den Übergang von einem kontemplativen zu einen formalen Denken, also von einem Denken, das eine Referenz zur res suchte zu einem Sprach-Denken) wie auch menschlich (Verlust an Tiefe, da das Unsagbare ist auch die Tiefe des Wirklichen, sprich von dem was erscheint); ich halte hier nur 2 Punkte fest. 1. Dass einige Menschen denken ist zweifelsfrei, also ist eine Tatsache - ich meine richtig "Gratis Denken", nicht um ein Ergebnis zu erzielen (wie oft im Alltag und in einer raffinierten Ebene in der Wissenschaft geschieht). Diese Tatsache des "Gratis Denken" soll gerettet werden, auch wenn das Denken nie die Evidenz des Schauens erreichen wird, sagt mit Recht Arendt. "Ohne den Lebenshauch ist der menschliche Körper ein Leichnam, ohne das Denken ist der Geist tot" (ibidem, 128). Und wenn der Geist tot ist, sind wir kur vor der Barbarien oder mittendrin und können keinen Sinn mehr "sehen". Allein um dieses Sinn, besser den "not-wendigen Seinsinn" (ferdinand Ulrich) zu spüren, zu kennen, ist ein Merkmal mehr als das reine Leben, ist die Liebe entscheidend. 2. In der abendländische Kultur hat das Sehen eine Priorität; das Sehen erlaubt eine gewisse Distanz - wenn ein Objekt zu nahe ist, kann man ihn nicht sehen. Das Hören scheint eindringlicher zu sein, wie zum Beispiel im Fall eines Tinitus sehr ärgerlich ist, und dennoch eine Überakzentuierung des Sehens bringt Probleme mit sich (die Probleme unserer Transparenzgesellschaft (Byung-Chul Han); nur durch das Hören können wir wirklich in die Tiefe gehen; und dass Gehorsam mit Hören zu tun hat, ist m.E. etwas gutes und nicht problematisches, wie Arendt meint.
(27.2.21) Über das Bedürfnis zu denken
Die Frage: "Was bringt uns zum Denken?" antwortet Hannah Arendt zu erst in Bezug auf "Die vorphilosophischen Annahmen der griechischen Philosophie". Wenn ich mein Anthropologie- Kurs in der 11. Klassen in Religion halte, fange ich dort an, präziser von Homer, der freilich auch Arendt zitiert; die Fragestellung von Arendt ist aber nicht: wer ist der Mensch?, sondern eben: "Was bringt uns zum Denken?"
"Unsere Frage, was uns zum Denken bringt, fragt weder nach Ursachen noch nach Zwecken" (ibidem, 130); deswegen habe ich von "Gratis-Denken" gesprochen, so wie ich bezüglich des Christentums von "Gratis-Liebe" spreche. "Sie setzt das menschliche Bedürfnis zum Denken einfach voraus und geht von den Annahme aus, dass die Denktätigkeit zu jenen energeiai, die, wie etwas das Flötenspielen, ihren Zweck in sich selbst haben und kein greifbares Endprodukt in der von uns bewohnten Welt hinterlassen" (ibidem, 130).
In dieser ersten griechischen Phase sind "Denken und Sein" eine Einheit und das Denken beschäftigt sich nicht mit "Meinungen", sondern mit dem, was stabil ist und das "geschaut" werden kann; die Wahrheit hat mehr mit dem Logos als mit dem Sein und mit dem Denken zu tun: es ist ein Aussprechen (Logos) von dem, was unaussprechlich ist, ohne Täuschung (in dem Sinne, dass man die andere nicht täuschen will). Wenn wir denken, sind wir sehr mit den Göttern verwandt: wir werden "unsterblich", wobei der Begriff der Unsterblichkeit ist nicht mit dem Begriff des Unendlichen zu ersetzen. Wenn das Christentum die Weltbühne betritt, wird nicht durch Denken, sondern durch Glaube Unsterblichkeit erlangt.
So wie wir nichts anders können als zu sehen, was zu sehen ist, sagt Arendt, können wir, solange wir Menschen sind, nicht anders können als zu denken. Und das hat mit Meinungen gar nicht zu tun. Diese ändern sich ständig, während das Denken gerade das Unveränderliche denken will. In Griechenland waren Philosophie und Theologie dasselbe. Der Übergang von der Mythologie zur Philosophie ist der Übergang, sagt Arendt, von Göttern, die entstehen, aber nicht sterben zu dem göttlichen Sein, das weder anfängt noch endet. Aber dies m.E. ist nicht nur vom Vorteil, darin liegt eine große Versuchung, die Arendt bestehen kann, weil sie mehr an der wirklichen Erfahrung als an Lehrbücher interessiert ist (cfr. 142).
(5.3.21) Was bringt uns zum Denken? Die Antwort Platons
"Denn dies ist in erster Linie die Leidenschaft (pathos) des Philosophen, sich zu wundern (thaumazein). Es gibt keinen anderen Anfang und Grundsatz (arche) der Philosophie als diesen" (Platon, zitiert in Arendt, ibidem 143).
Leibniz, Heidegger, Balthasar haben dieses Staunen mit der Frage zur Sprache (Logos als Sprache und vernünftiges Argumentieren) gebracht: "Warum gibts es Seiendes statt lieber Nichts?" Der Kapitel von der Arendt (142-152) müsste sorgfältig durchdacht werden, hier versuche ich nur die erste Schritte zu wagen. Gegenstand des Staunens ist das Ganze, nicht das isolierte Bestimmte und das Ganze ist nicht die Summe von Bestimmten, sondern Geheimnis, Mysterium. Von Ulrich habe ich angefangen das Geheimnis philosophisch zu buchstabieren als "Gabe" gelernt. Und Balthasar hat recht wenn er sagt, dass das Sein im Seiende nicht nur Bewunderung, sondern Verwunderung auslöst. Die Bewunderung empfindet man auch, wenn jemand eine sehr sorgfältige mathematische Kompetenz vorweist, die Verwunderung gerade eben angesichts des Überhaupt Da-sein des Ganzen und des Ganzen im Fragment.
Gabe setzt ein Geber voraus und wenn der Geber als nicht seiend betrachtet wird, dann ist der "Ekel" (Sartre) vor dem Ganzen die logische Konsequenz. Die Genialität von Ulrich besteht darin, das Problem des Nichts, das man in Verbindung zum Sein "automatisch" denkt, nicht nihilistisch (Sartre), sondern, in der "selbigen Verwendung von Sein und "Nichts", als Liebe zu deuten: das Ekel vor dem nihilistischen Nichts kann von innen her nur auf Grund des liebenden "Nichts" aufgehoben werden. Nur wenn jemand Gratuität des Seins und so der Liebe erfahren hat, ekelt er nicht. Die selbige Verwendung von Sein und "Nichts" ist auch die Antwort auf die offene Frage des Bösen. "Das bewundernde Staunen als Ausgangspunkt der Philosophie lässt keinen Raum für das tatsächliche Vorhandenseins von Disharmonie, Hässlichkeit und letzten Ende des Bösen" (Arendt, ibidem 151). Ja, so ist es wenn das Staunen nur theoretische Ausdruck der Unsichtbarkeit einer astronomischen und moralischen Harmonie ist, wenn aber das Sein Gratis Gabe ist, wenn das Sein Liebe umsonst ist, dann ist das Umsonst (gratis und frustra) gerade die Antwort an das tatsächliche Vorhandenseins des Bösen, der die Liebe zu negieren versucht. Eine Antwort, die nicht "contra", sondern "Integration" ist.
Allein um das auch nur inchoativ zu verstehen, müsste auf die Weltbühne Christus als der Logos auftreten: ein Logos, der die Auserwählung (Abraham-Sarah-Isak) wie auch die Ausschliessung (Abraham- Agar- Ismael) zu integrieren weisst und der durch seinen Hinabstieg in die Hölle, auch jede Form der Ablehnung Gottes zu retten vermag. Die Hölle ist dermassen das Nichts der Zerstörung jeglicher Form, die mit Recht Swetlana Alexijewitsch in Verbindung mit Tschernobyls sieht, dass sie nur von innen überwinden werden kann, in einem Akt der absolut Gratis Liebe, damit Auschwitz, Hiroshima, Tschernobyl nicht die "Chronik der Zukunft" werden.
(17.3.21) Was bringt uns zu denken? Die römische Antwort (cfr. ibidem 152-166)
Bevor ich einiges über diese römische klassische Antwort sage (in Anlehnung an Arendt), möchte ich gerne einen kurzen Exkurs in die Rechtsphilosophie versuchen; ich beziehe mich auf ein Buch von Christoph Menke, Kritik der Rechte, Berlin 2015 und zwar nicht auf die Hauptthese des Buches (der Kampf um die individuelle Rechte entkräftet die politische Möglichkeit, die Gesellschaft radikal sozial zu ändern), sondern auf den dort besprochenen Unterschied zwischen Athen (Aristoteles), Rom (Cicero) und London (Hobbes). Athen steht für eine pädagogische Idee des Rechtes: die Bürger werden durch das Recht zur Wahrheit erzogen; in Rom das Recht hat eine Zwangsfunktion: die Bürger müssen gezwungen werden das Wahre zu tun, während die Reflexion gehört der Philosophie. In London gibt es gar keine Wahrheit mehr: die Rechtsordnung dient dem Schlichten der unterschiedlichen Wünschen der Individuen. Der Wille des Individuum ist der "Gott". Das ist die Geburtsstunde des Liberalismus, aber auch die Sterbestunde des Denkens. Zurück zu Rom. Die rechtliche und politische Ordnung ist das, was die Seele der Römer ausmacht - in dem sind sie viel konkreter als die Griechen mit ihren erkenntnistheoretischen Theorie und mit ihrer pädagogischen Idee des Rechts.
Arendt reflektiert nicht auf diese rechtsphilosophische Ebene, sondern stellt sich die Frage, was uns zum Denken bringt, aber die von Menke beobachtete "Konkretheit" der Römer wird auch von ihr festgestellt. Die erste Frage, die Römer stellen, ist ob die Philosophie zu etwas taugt: dient sie der politischen und juristischen Tätigkeit oder ist sie reine Theorie? Sicher ist einem Römer wie Cicero die Frage: warum gibt es etwas, statt lieber nichts? sehr fremd. Und dennoch denkt auch Cicero, dass die Philosophie die römische Kultur verschönern kann und und dem Menschen einen Trost anbieten kann, wenn man die Handlungsmöglichkeit des Politikers und des Juristen gescheitert sind. Und wenn jemand für die eigene Heimat sein Leben riskiert hat, kann er, durch Philosophie, ein ewiges Ruhm erlangen.
In Epiktet, der unter die Herrschaft Neros lebt, hat die Philosophie sogar einen erkenntnistheoretisches Wert: nicht die Gegenstände, sondern den Eindruck, den sie in dem Bewusstsein des Menschen hinterlassen, ist "wirklich". Und durch die Reflexion über die Eindrücke können wir uns der Wirklichkeit entledigen, so dass auch jemand wie Nero uns nicht weh tun kann. Dieser Versuch den politischen Leid durch Arbeit mit dem eigenen Bewusstsein zu entfliehen geht bis Boethius, der unter der Herrschaft des Ostgotenkönigs Theoderich gelebt und umgebracht worden ist. Mit Etty Hillesum gesprochen: Hitler kann mein Körper töten, meine Psyche beschädigen, aber mich nicht in seinem Griff bekommen. Im Unterschied zu dem Philosoph Epiktet oder dem Christ Boethius ist aber die Hillesum viel realistischer, da sie nicht weißt ob sie stoisch in Auschwitz reagieren kann und sie denkt nicht, dass der eigene Wille entscheidend ist, sondern das sich im Gebet einen rettenden Gott öffnen.
Also kurz gesagt, bei den Römern das Scheitern bringt uns zum Denken und das und nur das ähnlich zu den Griechen, in einem sich von der Welt abwenden, so dass nicht nur "Denken und Verstehen bloße Vorbereitung zum Handeln sind" (155), sondern auch einen Trost anbieten, wenn das Handeln nicht mehr möglich ist.
(25.3.21 - Verkündigung des Herrn) Heute, beim erklären von Edmund Husserl in der 11/12. Klasse, hatte ich die Möglichkeit über den Begriff der "Erscheinungen", die in diesem Post durchdacht wird, weiter zu denken. Phänomenologie ist mit der Maxime "Zu den Sachen selbst", zusammenfassen; zu den Phänomenen! Wie müssen um dieses Programm durchzudenken eine falsche Antinomie, eine unfruchtbare Polarität überwinden und eine fruchtbare Polarität suchen. Unfruchtbar ist die Antinomie zwischen reinen Objektivismus und Psychologismus - der reine Objektivismus riduzuiert die Wirklichkeit in "nur Fakten", der Psychologismus in "nur Psyche" (Nur Gefühle habe ich für die Jugendlichen übersetzt). Die Philosophie hat nicht mit Gefühlen zu tun und auch nicht mit "nur Fakten": eine fruchtbare Polarität besteht in der Spannung zwischen objektiver Gültigkeit und subjektiver Gewissheit. Es geht tatsächlich um den Sachen und es geht tatsächlich um meine Gewissheit (die nicht auf einen Gefühl, sondern auf eine Arbeit mit sich selbst basiert). Um uns zu erklären worum es hier geht, Husserl verwendet einige sehr gute Formulierungen: "sachnah", "originär", "leibhaft gegeben" - das Gegenteil davon ist "sachfern", "nichtoriginär (vgl. Otfried Höffe, Kleine Geschichte der Philosophie, München 2001, 264) - und wenn es um uns geht, dann ist es klar, dass wir weder in einem "nur Faktum" noch in einem "nur Gefühlt" reduziert werden wollen, sondern eben "originär".
(15.4.21) Für eine Verteidigung der Ratlosigkeit und des aporetischen Denkens - Arendt begegnet Sokrates
Denken hat mit Ratlosigkeit zu tun, sagt mit Recht Hannah Arendt - wir neigen dagegen zu Patentrezepten, mit denen wir meinen alle Probleme der Welt zu lösen. Die Art und Weise wie Sokrates denkt, soweit wir es überhaupt feststellen können, ist aporetisch. Er hat keine Eindeutige Definition von Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Glück, etc. Er fragt sich einfach und er fragt dem anderen, ob das, was er*sie so mit großer Überzeugung vorträgt, tatsächlich wahr ist. Und die Spezialisten, ich meine di akademische Philosophen*innen, sind in der Urerfahrung des Denkens als Bedürfnis nicht besser als einfachere Leuten, die angesichts eines Leidens oder einer Freude, sich nach deren Sinn fragen, also denken. Die Spezialist*innen neigen alles was sie hören in einer Schublade zu stecken, eine etwa raffinierte Schublade, aber immer hin eine Schublade.
Ich habe eine Allergie gegenüber jeden Formen von Indoktrinierung, auch die religiöse Indoktrinierungen und Wiederholungen sind mit suspekt und gerade in einem solchen Kontext kommt ganz stark in mir das Bedürfnis zu denken, eine gewissen Ratlosigkeit auszudrücken, nicht eine Ratlosigkeit, die zum Nihilismus führt, sondern eine Ratlosigkeit, die dem Staunen eine echte Chance gibt. Nihilisten staunen nicht, sondern sie sind "dogmatisch"; echte Dogmen, dagegen führen zum Staunen: zum Beispiel angesichts der Verkündigung, dass Gott Mensch geworden ist, entsteht Staunen im großen Format.
Hannah Arendt vergleicht das Denken mit dem Eros: "Das, was ich Sinn-Suche genannt habe, heisst in Sokratischer Sprache Liebe und zwar in der griechischen Bedeutung des erōs, nicht in der christlichen der agape. Liebe als Eros ist in erster Linie ein Begehren; es begehrt, was es nicht hat" (Arendt, 178). Ich denke mit Benedikt XVI (Deus Caritas est), dass eros und agape etwas gemeinsam haben, obwohl sie nicht dasselbe sind. Gemeinsam haben sie die Gratuität. Man*frau denkt (eros) gratis und man wird geliebt (agape) gratis. Zwar in der agape, der der liebt ist Anwesend, aber als Geheimnis, das man nicht ableiten oder besitzen kann. Während der, den ich begehre, ist abwesend. Und dennoch wir sind gratis geliebt und wir lieben gratis. Ohne Gratuität gibt es gar keine Liebe. Der Nationalsozialist Eichmann, dessen Prozess Hannah Arendt in Jerusalem folgte, war jemand, der nicht gedacht, der nicht geliebt hat (im Sinne des Eros) und der sich nicht als Geliebter wahrgenommen hat. Er war jemand der in "Besitz von Regeln" (Arendt, 177) war und der auf Grund dieser Regeln bereit war zu töten.
In dem heutigen Debatte der Pandemie sowohl die, die den Virus negieren wie die, deren Existenz als wahr annehmen, fühlen sich ohne Ratlosigkeit in Besitz der richtigen Regel. Die Wissenschaftler, die den Virus bekämpfen sind nützlicher, sie mache eine ehrliche Arbeit, aber sie "denken" nicht und das ist vielleicht gut so, sonst hätten wir heute keine Impfung. Aber die Gesamtprobleme der Pandemie lassen sich nicht nur mit Regeln lösen, sondern mit einem echten Denken, das nicht nur die einfache Rezepte folgt, da nach der Pandemie, wie oft der Papst sagt, kommt eine ernsthafte Lage und nicht das Paradies.
Und viele der Problemen, die uns beschäftigen, habe keine eindeutige Lösung, sondern wir müssen die Polarität der Lösungen immer vor Augen haben, sprich aporetisch denken.
(06.05.21) Lothar Waehler, ein Politiker der AfD für den Wahlkreis 41 in unserer Region hat seinen politischen Flugblatt auch mit Zitaten von Philosophen (Nietzsche, Kant) gestaltet. Die Botschaft ist klar: Leben braucht Freiheit und Mut (Stärke) und wir sollen unseren eigenen Verstand bedienen, etc. "Denken" im Sinne Sokrates und Arendt ist das alles aber nicht, da denken ist "Verzögern", es ist aktive "Ratlosigkeit" im Sinne der aporetischen ersten Dialogen Platons, die am sokratischsten sind. Aporetisch heisst, dass eine Lösung nicht im Sicht ist; das wir sie zu suchen, ohne Belehrungen.
Ich habe gehofft, dass die AfD auch bei uns in Sachsen-Anhalt entzaubert sei, wie im Westen (Baden-Württemberg; Rheinland-Pflaz) , aber vermutlich wird es nicht so sein. Schuld daran ist auch die belehrende und moralisierende Art wie man alle die, die mir der Gesundheitspolitik der Regierung nicht einverstanden sind, begegnet werden. Für alles wird nur eine Lösung als möglich und die, die sie nicht teilen, sind die "Bösen" - und die vermeintliche Böse wählen dann AfD, die hier in Osten seinen Spektrum erweitert zu haben scheint: sie kapitalisieren Stimmen nicht nur mit dem Thema Migration, sondern auch nun mit dem, der "Gesundheitspolitik".
Die Pandemie war und ist noch eine ernste Sache (10 mal gefährlicher als eine starke Grippewelle) und dennoch muss besonders jetzt gegen Ende ein bisschen mehr "Ratlosigkeit", "Aporetik" gezeigt, statt "moralisierende Belehrungen, die dann oft erteilt werden von Personen, die nicht im entfernt den Grad der Reife erreicht haben, die jemand der aporetisch denkt erreicht hat. Offenheit im Denken ist Reife. Besserwisserei ist eine pubertierende Resthaltung.
Ich möchte gerne, dass der aktuelle Ministerpräsident Reiner Haseloff wieder Sachsen Anhalt regiert und jedoch nicht alles was die CDU macht, besonders in der Besetzungen von einigen Kandidaten, ist gut und in erster Linie eine Partei ist soweit gut, wenn sie nicht alle Räume des Denkens besetzt. Auch wenn die AfD nicht den Mut hat sich des eigenen Verstandes zu bedienen (Kant), dennoch hat soweit politisches Vermögen so zu tun als würde sie es tun.
(8.5.21) Impfstoff ohne Patent?
Ich wünsche mir einen Journalismus mit mehr "Aporetik" und "Polarität". Es gibt zu diesem Thema keine einzige richtige Meinung, mit dem amerikanischen Präsident untern den Guten und Deutschland (Merkel) und China (Xi Jinping) untern den Bösen.
Freilich es hat auch Forscher und Erfinder, die ihre geistige Früchte gar nicht patentiert haben: das gilt für Penicillin, Fotografie, Röntgenstrahlen, Karaoke, World Wide Web... (siehe Stefan Finsterbusch, FAZ, 8.5.21), aber es ist interessant die Antwort zu hören, die etwa Alexander Fleming gegeben hat, weil er seine Entdeckung nicht patentieren wollte: er habe den Pils nur entdeckt, nicht erfunden.
CureVac- Gründer Ingmar Hoerr empfindet den Vorschlag von Biden, die Patente für Impfstoff fallen zu lassen, für "populistisch"; die Konsequenz davon wäre nicht Solidarität, sondern "Gepansche" (er erklärt das Wort so: "Mit Patenten hat man bestenfalls ein grobes Rezept, mit dem man irgendwie versuchen kann, etwas nachzumachen") und eine "Gefährdung für die Gesundheit" (cfr. FAZ, 8.5.21, S. 28). Er sagt auch: "Ein ganz anders Problem ist, dass die USA momentan Grundstoffe zurückhalten, die wir für die Impfstoff-Produktion dringend brauchen, die unter Verweis auf die nationale Notlage nicht exportiert werden dürfen". Also es scheint, dass der Vorschlag von Präsident Biden gar nichts mit dem Thema Impfstoff für allen zu tun hat. "Wie soll man dieses Jahr noch die Welt durchimpfen, wenn die Lieferketten reißen, weil nationalen Interesse verfolgt werden?" (Hoerr).
"Die Fotografie (um ein Beispiel zu machen) ist quasi ein Geschenk von Frankreich an die Welt" (Finsterbusch) und dennoch stellt sich die Frage: "Wer sollte in Zukunft noch die Erforschung neuer Medikamente und Therapien investieren , wenn man Ende ohnehin alle Erkenntnis verschenkt werden müssen?" (Hoerr).
Und was uns Katholiken anbelangt: Der Papst mit seinen Wunsch, dass die ganze Welt, insbesondere die Armen, geimpft werden, kann nicht mit einer politischen Einstellung identifiziert werden; also weder mit Biden noch gegen ihn. Es handelt sich hier um ein "Sachproblem" - wie wird am besten das solidarische Ziel des Papstes erreicht? Und auch in diesem Punkt brauchen wir "Denken" im Sinne Hannah Arendt's. Ein bisschen mehr "Aporetik", ein bisschen weniger "Besserwisserei". Und es wäre so schön, wenn man sich ab und zu als "Fratelli tutti" wirklich betrachten würde.
(13.1.22) Selbstreflexion und der Verlust des Gemeinsinns und das Denken- und Erkenntnisvermögen und das neuzeitliche Weltbild (vgl. Hannah Arendt, Vista activa, Numeri 39 und 40).
Synthetisch zusammengefasst: Die moderne gilt als die Geburtsstunde der Wissenschaft, die heute als sicheres Wissen in Frage gestellt wird. Tatsache ist, dass der Vater der Moderne, Descartes, Philosoph und Mathematiker, nur ein Problem hat: Welche Gewissheit haben wir angesichts des Zweifels, dass die ganze Wirklichkeit eigentliche eine Täuschung sein könnte? In der heutigen Querbewegung befinden sich "Gegensätze" (Menschen, Denkarten) zusammen: es handelt sich um eine Bewegung, in der die rechten und die linken Szene etwas gemeinsam haben: den Verdacht getäuscht zu werden. Ein echtes "modernes Problem"! Wer meint, dass einen starken Verweis auf die Autorität von Wissenschaft und Fakten genüge um solchen Menschen zu überzeugen, vernachlässigt, dass der Zweifel selbst der Motor der Wissenschaft ist und dass die einzige Gewissheit, die Descartes hatte war: cogito me cogitare. Ich denke, dass ich denke und so bin ich. Also das Sein des Menschen hängt von seinem Denken ab, der ihn versichert, dass er tatsächlich ist. Allein diese Versicherung ist inhaltslos oder rein formal, sie versichert nur, dass wir "gleich" denken oder dass 2 mal 2 4 ist, aber sie gibt uns keine Sicherheit was daraus in der äußeren Welt resultieren könnte. Sagen wir es so: Descartes denkt um den Zweifel zu überwinden, aber gerade dieses Zweifel wird "Methode". Die Aussenwelt ist nicht gesichert: "die Gemeinsamkeit, die sich dem Menschen kundgab, war nun nicht mehr die dem Gemeinsinn zugänglichen Gemeinsamkeit einer Aussenwelt, sondern lediglich die Tatsache, dass er als Räsonnement in allen Menschen gleich funktioniert; was die Menschen des gesunden Menschenverstand miteinander gemein haben, ist keine Welt, sondern lediglich eine Verstandesstruktur, die sie zudem genau genommen gar nicht gemein haben können, es kann sich höchstens herausstellen, dass sie in jedem Exemplar der Gattung des Menschengeschlechtes gleich funktioniert" (Hannah Arendt, ibidem 275-276). Womöglich um das Phänomen der Querdenken zu verstehen, müsste man Psychoanalyse, kritische Theorie bemühen, aber als Philosoph würde ich sagen, dass die Verlust des Gemeinsinnes, also die Verlust eines gewissen gemeinsamen Zugang zur äusseren Welt nicht durch Wissenschaft allein gesichert werden kann, weil diese in sich methodischer Zweifel ist. Was wieder zu erlangen wäre, wären eine Art gemeinsamen Sinn, dass die Wirklichkeit geschenkt ist, sinnvoll geschenkt ist, und keinen Projekt eines bösen Geistes. Als wir brauchen eine Ontologie des Seins als Gabe und in ihr auch eine Wertschätzung von der wissenschaftlichen Methode, die grundsätzlich, wie "Don't look up" kinematographisch zu zeigen versucht, einfache Beobachtung durch Teleskop und Mathematik ist . Aber ohne die ontologische Wertschätzung, dass wir als Menschen Gaben sind, wird die Wertschätzung der Mathematik nicht möglich sein, weil sie zu abstrakt ist. Auch was ein Virologe sagt, ist für den gemeinen Menschen zu abstrakt: er sieht, dass er nicht "umarmbar" ist und dass er so viel zu verzichten hat, was er zutiefst braucht. Also nur wenn wir vermitteln können, dass die Menschen Gabe sind, egal was sie über Impfung, etc. denken, werden wir nicht nur noch mehr den Verdacht getäuscht zu werden vertiefen...